Privatkopien: ETH-Bibliothek vs. Wissenschaftsverlage

Foto: Bibliotheksmitarbeiter beim Scannen von Seiten aus einer wissenschaftlichen Publikation
Hinweis: Mit BGE 140 III 616 vom 28. November 2014 erklärte das Schweizerische Bundesgericht den Dokumentenlieferdienst der Bibliothek der ETH Zürich für zulässig.

Die führenden Wissenschaftsverlage Elsevier, Thieme und Springer klagen wie berichtet gegen den Dokumentenlieferdienst der Bibliothek der Eidgenössische Technische Hochschule (ETH). Nun nimmt Wolfram Neubauer, Direktor der ETH-Bibliothek, via «ETH Life» öffentlich Stellung zum Rechtsstreit.

Hintergrund: Dokumentenlieferdienst der ETH-Bibliothek

Neubauer erläutert, dass zu den traditionellen Aufgaben einer wissenschaftlichen Bibliothek auch der Versand von Kopien und Scans aus Aufsätzen zählt. Dagegen versuchen die Verlage Elsevier, Springer und Thieme rechtlich vorzugehen, wobei die Klage beim Handelsgericht in Zürich durch die International Association of Scientific, Technical and Medical Publishers (STM) eingereicht wurde und von anderen Verlagen unterstützt wird:

«Ziel von STM ist es, den Versand von Scans aus wissenschaftlichen Publikationen durch die ETH-Bibliothek an Kunden innerhalb der Schweiz verbieten zu lassen. Wesentliches Argument hierbei ist die Aussage der Verlagsvertreter, dass die wissenschaftlichen Verlage eigene Dokumentenlieferdienste unterhalten würden, die die Versorgung von Forschung und Entwicklung gleichermassen sicherstellen könnten.

Darüber hinaus behaupten die Verlagsvertreter, die Lieferung von Aufsatzkopien in elektronischer Form verstosse gegen die einschlägigen Bestimmungen des Schweizer Urheberrechts und wäre somit illegal.»

Standpunkt von ETH Zürich und ETH-Bibliothek

Die Haltung der ETH Zürich beziehungsweise der ETH-Bibliothek, so erklärt Neubauer, ist genau entgegengesetzt:

«Das genannte Angebot ‹Lieferung von elektronischen Kopien aus Dokumenten› ist durch die entsprechenden Artikel im Schweizer Urheberrechtsgesetz abgedeckt. Darüber hinaus liefert die ETH-Bibliothek die entsprechenden Gebühren an die einschlägige Inkassostelle ProLitteris ab. Die ETH-Bibliothek vertritt den Standpunkt, dass sie somit innerhalb der geltenden Urheberrechtsbestimmungen für den Forschungsstandort Schweiz eine sinnvolle Dienstleistung zu akzeptablen finanziellen Bedingungen erbringt.»

Die Klage der Verlage sieht Neubauer – naheliegenderweise – in wirtschaftlichen Interessen begründet:

«Selbstverständlich hat eine Reihe von Verlagen mittlerweile eigene Lieferdienste aufgebaut, die allerdings für interessierte […] Wissenschaftler weit weniger attraktiv sind. Einmal sind die Kosten drastisch höher, als dies im Fall des Dienstes der ETH Zürich der Fall ist und zweitens ist auch die konkrete Nutzung erheblich schwieriger.

Der Dokumentenlieferdienst der ETH-Bibliothek stellt einen zentralen Anlaufpunkt zur Verfügung, so dass es nicht notwendig ist, bei verschiedenen Verlagen unterschiedliche Preisstrukturen, Lieferbedingungen, Abrechnungsmodalitäten usw. zu kennen. Dies ist natürlich für die Nutzung heterogener Quellen eine wesentliche Vereinfachung.»

Abschliessend weist Neubauer auf drei wichtige Punkte hin, die von den Verlagen und ihren Vertretern häufig unterschlagen werden:

  1. Wissenschaftlich relevante Zeitschriften werden fast ausschliesslich durch die Ergebnisse öffentlich finanzierter oder zumindest geförderter Forschung getragen;
  2. Wissenschaftsverlagen spielen beim Bewerten wissenschaftlicher Ergebnisse, das die Hauptlast beim Publizieren von Forschungsergebnissen darstellt, lediglich eine unterstützende Rolle, denn das «Peer Reviewing» wird von der (wiederum öffentlich finanzierten oder zumindest geförderten) «Scientific Community» erbracht;
  3. Mit Abstand die wichtigsten Kunden der grossen Wissenschaftsverlage sind die wissenschaftlichen Bibliotheken, die mehrheitlich durch öffentliche Finanzierung oder zumindest Förderung getragen werden.

Standpunkt von Springer Science+Business Media

Springer Science+Business Media nahm auf meine Anfrage hin wie folgt Stellung zum Rechtsstreit mit der Bibliothek der ETH-Zürich:

«[…] Natürlich begegnen wir unseren geschätzten Kunden nur äußerst ungern vor Gericht, und wir versuchen deshalb alles in unserer Macht stehende, im Dialog gemeinsame Lösungen zu finden. Aber wenn es einmal unmöglich ist, über die Interpretation bestimmter Urheberrechtsschranken Einigung zu erzielen, bleibt uns nur die Klärung durch ein Gericht.»

Fazit

Ohne Kenntnis der Klageschrift fällt es schwer, den Standpunkt der Wissenschaftsverlage nachzuvollziehen. Der Standpunkt ist wirtschaftlich verständlich, doch bleibt die rechtliche Begründung unklar. Aus gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Perspektive erscheint der Standpunkt der Wissenschaftsverlage äusserst fragwürdig:

Vervielfältigungen zum Eigengebrauch (Privatgebrauch) sind bislang in der Schweiz eine urheberrechtliche Selbstverständlichkeit. Wer eine Zeitschrift oder eine andere wissenschaftliche Publikation aus einer Bibliothek ausleiht, geht selbstverständlich davon aus, eine solche Publikation zum Eigengebrauch in Teilen kopieren oder scannen zu dürfen – wissenschaftliches Arbeiten wäre ohne solche Privatkopien faktisch gar nicht möglich. Die Urheber werden für Verfielfältigungen durch die Verwertungsgesellschaft ProLitteris aus entsprechenden Abgaben für die Kopien entschädigt. Sollen Wissenschaftler etwa gar nicht mehr selbst kopieren und scannen dürfen?

In seinen Regeln zum Eigengebrauch sieht das schweizerischen Urheberrechtsgesetz (URG) vor, dass solche Vervielfältigungen auch durch Dritte hergestellt werden dürfen, insbesondere auch Bibliotheken (Art. 19 Abs. 2 URG):

«Wer zum Eigengebrauch berechtigt ist, darf […] die dazu erforderlichen Vervielfältigungen auch durch Dritte herstellen lassen; als Dritte im Sinne dieses Absatzes gelten auch Bibliotheken […], die ihren Benützern und Benützerinnen Kopiergeräte zur Verfügung stellen.»

Die ETH-Bibliothek stellt als Dritte im urheberrechtlichen Sinn Vervielfältigungen zum berechtigten Eigengebrauch her. Sie leistet dafür Abgaben zugunsten der Urheber an die zuständige Verwertungsgesellschaft. Insofern wäre es enttäuschend, wenn das Zürcher Handelsgericht zugunsten der Wissenschaftsverlage und ihrer wirtschaftlichen Interessen entscheiden würde. Es würde damit letztlich den Eigengebrauch überhaupt in Frage stellen, den Zugang zu Wissen weiter erschweren und verteuern sowie einen Standortvorteil des Forschungsplatzes Schweiz zerstören.

Bild: ETH Zürich / «ETH Life».

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