Deutschland und die Schweiz haben am 5. April 2012 ein Ergänzungsprotokoll (PDF) zum Steuerabkommen vom 21. September 2011 unterzeichnet. Das Ergänzungsprotokoll enthält unter anderem in Art. 17 einen umfassenden «Verzicht auf die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten», die vor Unterzeichnung des Steuerabkommens begangen wurden. Die zuständigen Behörden in Deutschland und in der Schweiz müssten damit gemäss dem völkerrechtlichen Frustrationsverbot auf jede entsprechende Strafverfolgung verzichten.
Gemäss dem Frustrationsverbot sind Staaten verpflichtet, zwischen Unterzeichnung und Inkrafttreten eines Staatsvertrages Massnahmen zu unterlassen, die dem Zweck und den Zielen des Staatsvertrages widersprechen. Das Frustrationsverbot ergibt sich einerseits aus dem Schutz des guten Glaubens, andererseits aber insbesondere auch aus der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK), deren Mitglieder Deutschland und die Schweiz sind.
Art. 18 WVK statuiert die «Verpflichtung, Ziel und Zweck eines Vertrags vor seinem Inkrafttreten nicht zu vereiteln»:
«Ein Staat ist verpflichtet, sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel und Zweck eines Vertrags vereiteln würden,
a) wenn er unter Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung den Vertrag unterzeichnet oder Urkunden ausgetauscht hat, die einen Vertrag bilden, solange er seine Absicht nicht klar zu erkennen gegeben hat, nicht Vertragspartei zu werden, oder
b) wenn er seine Zustimmung, durch den Vertrag gebunden zu sein, ausgedrückt hat, und zwar bis zum Inkrafttreten des Vertrags und unter der Voraussetzung, dass sich das Inkrafttreten nicht ungebührlich verzögert.»
Gemäss Medienberichten verzichten bislang die zuständigen Behörden in Deutschland und in der Schweiz nicht auf die Verfolgung von entsprechenden Straftaten. So hält die Schweizerische Bundesanwaltschaft an ihren Haftbefehlen gegen deutsche Steuerfahnder fest und in Deutschland wurde weder die «BILD»-Strafanzeige gegen Bundesrätin Simonetta Sommaruga zurückgewiesen noch wird auf den Kauf weiterer Daten-CDs mit Steuerdaten verzichtet …
Eine vielleicht naive Frage, aber wie sollten die zwei Regierungen diesen Artikel 17 (Verzicht auf Strafverfolgung) überhaupt durchsetzen?
Meines Wissens kann der Bundesrat / das EJPD der Bundesanwaltschaft keine Weisungen erteilen, zumindest nicht seit der Schaffung der unabhängigen Aufsichtsbehörde, und ohnehin nicht in Einzelfällen.
Oder könnten sich die beschuldigten Steuerfahnder nun, bzw. nach allfälligem Inkrafttreten des Abkommens, an die BA wenden und mit Verweis auf Artikel 17 die Einstellung des Strafverfahrens verlangen? Falls dies die BA nicht tut, würde die Einstellung dies vom Bundesstrafgericht im Rechtsmittelverfahren durchgesetzt!?
Dies ist erst die Schweizer Perspektive…wie dann die deutsche Bundesregierung eine deutschen Landes-Staatsanwaltschaft in Berlin anweisen soll, eine allfällige Ermittlung gegen Sommaruga einzustellen, ist mir kompetenzrechtlich gesehen ein noch grösseres Rätsel.
Was übersehe ich?
@Michael Bimmler:
Berechtigte Fragen, für deren Beantwortung ich mich allerdings nicht zuständig fühle. Ich empfehle entsprechende Anfragen an das EJPD und die Bundesanwaltschaft – etwaige Antworten veröffentliche ich gerne auf meiner Website.
Natürlich – es waren auch eher rhetorische Fragen / ein Diskussionsanstoss.
Ich habe den Verdacht, dass EJPD und BA hier mit Verweis auf verhandlungs- und prozesstaktische Überlegungen meine Fragen unbeantwortet lassen würden. Aber wenn ich nicht anderes mehr zu tun finde, werde ich gerne einmal dort anfragen…
Üblicherweise erhält man eine Antwort, sie fällt bisweilen bloss sehr knapp aus …