Flughafen Zürich: Totaler deutscher Sieg im «Fluglärmstreit»

Foto: Flugzeug im Anflug auf den Flughafen Zürich bei Sonnenuntergang

Ende Januar 2012 kapitulierte die Schweiz vor Deutschland im jahrelangen so genannten Fluglärmstreit um den Flughafen Zürich. «So genannt», weil Deutschland und die Schweiz eigentlich gemeinsam festgestellt hatten, dass die streitige Fluglärmbelastung durch den «Zürcher» Flugbetrieb in Südbaden kaum messbar ist – der relevante Fluglärm betrifft fast ausschliesslich schweizerisches Staatsgebiet, wodurch in der Schweiz ironischerweise deutlich mehr Deutsche von Fluglärm betroffen sind als in Südbaden (PDF).

Kapitulationsurkunde bildete eine gemeinsame Absichtserklärung. Die Erklärung sah insbesondere den unverzüglichen Schluss eines neuen Staatsvertrags mit von Deutschland ultimativ diktierten Eckpunkten vor. Anfang dieser Woche nun paraphierten Deutschland und die Schweiz diesen neuen Staatsvertrag. Mit der Ratifizierung des neuen Staatsvertrages würden die heutigen deutschen An- und Abflugbeschränkungen für den Flughafen Zürich nochmals verschärft.

Bestimmungen des deutsch-schweizerischen Staatsvertrages

Der neue Staatsvertrag, der gemäss Präambel unter anderem vorgibt, «Mensch, Natur und Umwelt möglichst umfassend gegen übermäßige Auswirkungen des Luftverkehrs […] schützen» zu wollen, sieht insbesondere folgende Verschärfungen der bestehenden An- und Abflugbeschränkungen vor:

  • Sofortige Verschärfung der bestehenden deutschen Anflugbeschränkungen: An Wochentagen wären Nordanflüge über deutsches Staatsgebiet auf die Pisten 14 und 16 gemäss den deutschen Sperrzeiten nur noch bis 20 Uhr statt wie heute bis 21 Uhr erlaubt. Die einschlägige 220. deutsche Durchführungsverordnung (220. DVO) würde voraussichtlich entsprechend angepasst.
  • Weitere Verschärfung der deutschen Anflugbeschränkungen nach einer Übergangsfrist: Nordanflüge wären an Wochentagen nur noch bis 18 Uhr statt wie heute bis 21 Uhr (Wochentage) beziehungsweise bis 20 Uhr (Wochenenden und Feiertage in Baden-Württemberg) erlaubt. Ausserdem dürften die Pisten 14 und 16 nicht gleichzeitig genutzt werden, falls dadurch die Kapazität des Flughafens Zürich gesteigert werden könnte. Die Übergangsfrist endet spätestens Ende 2019 oder nach erfolgtem Ausbau der notwendigen neuen Flughafeninfrastruktur – damit ist vor allem die notwendige Verlängerung der Piste 28 (Westpiste) für häufigere Ostanflüge gemeint.
  • Beschränkungen für etwaigen «Gekröpften Nordanflug»: Grundsätzlich wäre es langfristig voraussichtlich möglich, die Pisten 14 und 16 am Flughafen Zürich mit dem so genannten Gekröpften Nordanflug anzufliegen ohne deutsches Territorium zu berühren. Die Schweiz musste sich im neuen Staatsvertrag dennoch dazu verpflichten, einen solchen innerschweizerischen Anflug lediglich «unter Anwendung modernster Anflugverfahren sowie unter Einhaltung des technisch maximal möglichen Abstandes zur Staatsgrenze» einzurichten, wobei der Grenzabstand unter Beteiligung der Deutschen Flugsicherung (DFS) festgelegt würde.

Vor dem Hintergrund dieser erneuten Verschärfung der An- und Abflugbeschränkungen gewährte Deutschland der Schweiz für den Flugbetrieb lediglich zwei bescheidene Zugeständnisse und verzichtete in einem Aspekt auf eine weitere Verschärfung:

  • Etwas frühere Nordanflüge an Wochentagen: Am Morgen an Wochentagen dürften Anflüge ab 6.30 Uhr und nicht wie heute ab 7 Uhr über deutsches Staatsgebiet geführt werden. Heute wird der Flughafen Zürich zwischen 6 und 7 Uhr mittels Südanflug auf Piste 34 angeflogen – sollte es dabei bleiben, würde die betroffene Bevölkerung weiterhin kurz vor 6 Uhr durch Fluglärm aus dem Schlaf gerissen. An Wochenenden wären Anflüge weiterhin erst ab 9 Uhr möglich.
  • Etwas geringere Mindestüberflughöhe für Starts: Starts ab dem Flughafen Zürich dürften ab Flight Level 120 (Flugfläche 120, rund 3’650 m) anstatt wie heute ab Flight Level 150 in deutschen Luftraum einfliegen. Dieses Zugeständnis würde die Arbeit der Flugverkehrsleiter bei der schweizerischen Flugsicherung Skyguide erleichtern.
  • Unveränderte Beschränkungen für RILAX-Holding: Die bestehenden Beschränkungen für das RILAX-Holding über Donaueschingen im deutschen Norden des Flughafens Zürich bleiben unverändert bestehen.

Gleichzeitig musste die Schweiz ergänzend zu den An- und Abflugbeschränkungen gegenüber Deutschland in mindestens drei Aspekten weitere Beschränkungen ihrer Souveränität hinnehmen:

  • Informationspflicht: Die Schweiz muss Deutschland über alle Vorhaben, die Bau oder Betrieb am Flughafen Zürich betreffen, unverzüglich unterrichten.
  • Inländerbehandlung für Deutsche: Alle auch nur möglicherweise betroffenen Einwohner, Gebietskörperschaften und Unternehmen in Deutschland würden im Zusammenhang mit dem Flughafen Zürich gleiche Rechte wie die entsprechenden Einwohner, Gebietskörperschaften und Unternehmen in der Schweiz geniessen. Dazu würden insbesondere Fluglärm-Entschädigungen und Schallschutzmassnahmen zählen.
  • Keine Verlängerung von Piste 14/32: Die Hauptlandepiste am Flughafen Zürich kann faktisch nicht verlängert werden, denn der neue Staatsvertrag verbietet eine Verschiebung des Aufsetzpunktes von Piste 14 nach Norden.

Weitere Bestimmungen im neuen Staatsvertrag betreffen die Fortsetzung der bestehenden Zusammenarbeit der Flugsicherung in Deutschland und in der Schweiz, die Bildung einer Gemeinsamen Luftverkehrskommission und gegenseitige Konsultationen bei Meinungsverschiedenheiten. Der neue Staatsvertrag kann frühestens Anfang 2031 gekündigt werden, die Kündigungsfrist beträgt 12 Monate. Die Ratifikation soll so bald wie möglich in Berlin stattfinden.

Vernichtende Niederlage für die Schweiz

Der neue Staatsvertrag stellt eine vernichtende Niederlage der Schweiz gegenüber dem machtpolitisch agierenden Deutschland dar, denn das deutsche Diktat berücksichtigt zahlreiche sachliche Aspekte nicht:

  • Keine Berücksichtigung der Fluglärmbelastung: In Südbaden gibt es wie oben erwähnt kaum messbaren Fluglärm durch den Flughafen Zürich – das haben Deutschland und die Schweiz gemeinsam und unbestritten festgestellt. Die ebenso unbestrittene Fluglärmbelastung der schweizerischen Bevölkerung im dichten Siedlungsgebiet rund um den Flughafen Zürich hingegen würde mit dem neuen Staatsvertrag deutlich zunehmen und noch mehr umweltrechtlich eigentlich unerwünschte Fluglärmverteilung würde notwendig.
  • Keine Berücksichtigung der Flugsicherheit: Der neue Staatsvertrag erwähnt das Ziel der Flugsicherheit nicht. Dabei ist der Flugbetrieb am Flughafen Zürich heute bereits äusserst komplex. Mit dem neuen Staatsvertrag wird sich diese Komplexität voraussichtlich auf Kosten der Flugsicherheit weiter erhöhen.
  • Keine Berücksichtigung der deutschen Dominanz am Flughafen Zürich: Deutsche Fluggesellschaften wie Lufthansa (einschliesslich SWISS) und Air Berlin dominieren am Flughafen Zürich. Die deutschen Beschränkungen betreffen damit in Bezug auf den Flugbetrieb in erster Linie deutsche Fluggesellschaften.
  • Keine Berücksichtigung des Luftrechts: Die deutschen An- und Abflugbeschränkungen sind aus luftrechtlicher Sicht nicht zulässig – diesbezüglich besteht weitgehende Einigkeit unter anerkannten Luftrechtlern, auch in Deutschland.

Künftiger Flugbetrieb am Flughafen Zürich?

Mit dem neuen Staatsvertrag dürften Nordanflüge auf die Pisten 14 und 16 über deutsches Staatsgebiet nur noch während neun Stunden an Wochenenden und Feiertagen sowie während elfeinhalb Stunden an Wochentagen stattfinden. Im vorliegenden Objektblatt für den Flughafen Zürich aus dem bisherigen Prozess für den Sachplan Infrastruktur der Luftfahrt (SIL-Prozess) findet sich keine entsprechende Variante.

In Anlehnung an die Varianten gemäss SIL-Objektblatt – insbesondere Variante «J-optimiert» – wäre aber mit dem neuen Staatsvertrag folgender Flugbetrieb am Flughafen Zürich denkbar:

  • Ausserhalb der deutschen Sperrzeiten erfolgen Landungen grundsätzlich via Norden und über deutsches Staatsgebiet auf Piste 14 sowie ausnahmsweise auf Piste 16. Starts erfolgen ab Piste 28 nach Westen und über die Stadt Zürich sowie ergänzend ab Piste 16 nach Süden sowohl mit der heutige geflogenen Linkskurve als auch neu geradeaus – Letzteres um Verspätungen zu vermeiden oder abzubauen.
  • Während der deutschen Sperrzeiten am Mogen vor 6.30 Uhr und am Abend ab 18 Uhr erfolgen Landungen vorläufig grundsätzlich via Osten und über schweizerisches Staatsgebiet auf Piste 28, die nach Westen in Richtung Rümlang verlängert wird. Starts erfolgen ab Piste 32 nach Norden und ergänzend ab Piste 28 nach Westen. Deutsches Staatsgebiet wird bei solchen Starts und Landungen nicht beziehungsweise nur in grosser Höhe überflogen. Landungen am Morgen könnten auch länger als die zwingend notwendige halbe Stunde über schweizerisches Staatsgebiet erfolgen.
  • Sind während der deutschen Sperrzeiten Landungen auf Piste 28 nicht möglich – beispielsweise aus Wettergründen oder aufgrund der in Einzelfällen erforderlichen grösseren Pistenlänge –, erfolgen Landungen ausnahmsweise via Süden auf Piste 34.
  • Mittelfristig könnten durch den Gekröpften Nordanflug auch während der deutschen Sperrzeiten wieder Landungen auf den Pisten 14 und 16 stattfinden und so die Anzahl der Ost- und Südanflüge reduzieren.
  • Je nach Wetterlage müssten wie heute schon zeitweise andere Varianten für den Flugbetrieb gewählt werden, beispielsweise durchgängig Landungen auf Piste 28 statt 14 bei starkem Westwind.

Dieser skizzierte Flugbetrieb hätte zwei wesentliche Nachteile:

Die notwendige Verlängerung von Piste 28 ist politisch äusserst umstritten und die Fluglärm-Belastung im Osten des Flughafens Zürich würde weiter wachsen. Realpolitisch ist allerdings zu vermerken, dass es bislang immer gelang, Ausbauvorhaben am Flughafen Zürich gegenüber der betroffenen schweizerischen Bevölkerung durchzusetzen … Letzteres könnte aber genauso bedeuten, dass bei einem politischen Scheitern der Verlängerung von Piste 28 während der deutschen Sperrzeiten grundsätzlich via Flughafen-Süden auf Piste 34 gelandet würde.

Fazit: De Foifer und ds Weggli für Deutschland

Bundesrätin Doris Leuthard paraphierte einen neuen Staatsvertrag, der einer fast vollständigen Kapitulation gegenüber dem unerbittlichen Diktat der deutschen Grossmacht entspricht – bis hin zum in der Schweiz ungebräuchlichen Eszett im Vertragstext und der Ratifikation in der deutschen Hauptstadt Berlin.

Der Schweiz gelang es bedauerlicherweise nicht, die sachlich und rechtlich nicht begründeten deutschen An- und Abflugbeschränkungen zu beseitigen. Sie war nicht in der Lage, sich mit sachlichen Argumenten wie der tatsächlichen Fluglärmbelastung durchzusetzen, politische Hebel wie den Lastwagen-Transit durch die Alpen zu nutzen oder ihre rechtlichen Möglichkeiten wie ein Vorgehen bei der International Civil Aviation Organization (ICAO) auszuschöpfen.

Im Ergebnis muss die Schweiz eine weitere Verschärfung der Flugbeschränkungen für den Flughafen Zürich zu Lasten der schweizerischen Bevölkerung sowie weitere Verluste der Souveränität hinnehmen. Die deutsche Bevölkerung in Südbaden hingegen erhält – weltweit einzigartig! – noch mehr Schutz vor primär gefühltem und nicht messbarem Fluglärm, geniesst aber gleichzeitig die wirtschaftlichen Vorteile der unmittelbaren Nähe eines internationalen Grossflughafens. In Deutschland müssen sich die Grossflughäfen in Frankfurt am Main und München definitiv nicht mehr vor Konkurrenz durch den Flughafen Zürich fürchten. Alles selbstverständlich unter Vorbehalt, dass der neue Staatsvertrag nicht genauso wie sein Vorgänger in Deutschland und/oder der Schweiz scheitert

Bild: Flickr / Daniel Kuster, CC BY-ND 2.0 (generisch)-Lizenz; Grafik: Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL).

Ein Kommentar

  1. Martin, zu 90% vollkommen einverstanden. Aber: In der Schweiz gibt es halt die sonderbare Tradition, Flughäfen angrenzend an andere souveräne Staaten zu bauen (LSZH, LSGG, LFSB, LSZA), was weltweit sicher auch einzigartig ist. Und m.E. ist Konfliktpotenzial somit vorprogrammiert. Ausserdem ist die Delegation von Lufträumen an skyguide für mich eine rechtliche Grauzone (aber da kannst Du mich sicher aufklären ;-) ). Zudem wurde die Ausgestaltung der Verkehrswege (An-/Abflug) von der Schweiz monopolisiert, Deutschland (LSZH) oder Frankreich (LSGG) wurden in die Entscheidungsprozesse nie miteinbezogen (in LFSB glaube ich schon). Letzlich wurde in den Kantonen auch immer auf die Karte gesetzt, dass der Nordanflug über deutsches Gebiet ewig Bestand haben würde. Somit hat man es verpasst, Lärmkataster für flughafennahe Gemeinden zu erstellen. Mit diesem Instrument hätte man per Gesetz festlegen können, dass jemand, welcher in Turbenthal oder Gockhausen ein Grundstück/Wohnung übernimmt, ein je nach Lage berechnetes Mass an Fluglärm zu akzeptieren hat.
    Meiner Meinung nach ist der jetzige Vertrag einfach die Quittung dafür, dass erstens die Kantone die Entwicklung rund um LSZH verschlafen haben. Und zweitens dass die Schweiz seit Jahrzehnten über keine Politiker (und Bundesämter) verfügt, welche genug Ahnung (bzw. Interesse) von Aviatik bzw. Verkehr haben, um die Schweiz angemessen zu vertreten.

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