Die Platten sind voll, der Rechner brummt. Man sitzt zuhause mit Terabyte an Fotos, Musik und Filmen. Zunächst stellt sich die Frage, was dieser Information Overload soll. Sind all die Daten, die man sich nur selten einmal wieder anschaut oder anhört, Ausdruck eines digitalen Messie-Syndroms? Geht es hier um das Haben als Akt?
Junge Menschen lehnen jedenfalls diese Sammelwut ab und greifen mehr zum Access, zu Youtube, Spotify und anderen Streamingdiensten. Damit wird das Problem der Internet-Piraterie reduziert. Klagte früher die Content-Industrie über und gegen die P2P-Generation, sind solche Dienste heute oft bedeutungslos. Die Umsatzzahlen etwa der Musikbranche steigen wieder – und doch regt sich neuer Unmut. Mittels Spotify lässt sich nicht viel Geld machen; bei Musikverlegern und Kreativen kommen meist nur wenige Franken selbst bei vielgehörter Musik an. Und wieder geht das Geschrei los:
Gefordert wird ein weltweites Verbot ungenehmigter Streamingdienste. Gedroht wird auch den Nutzern solcher Diensten: Sie würden mit dem Anhören von Musik urheberrechtlich relevante Vervielfältigungen vornehmen. Insofern sei die Nutzung illegaler Access-Dienste auch für deren Nutzer verboten und werde künftig massiv geahndet.
Das Problem: The Sixties
Das Problem: Das Urheberrecht der meisten europäischen Staaten stammt aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es ist die Welt des Radios, der ersten Videorecorder, der klobigen Röhrenfernseher. Internetdienste durchbrechen die alten Medienkategorien. Wenn man online Fernsehinhalte auf einer grossen externen Festplatte speichern kann, ist das ein Videorecorder oder etwas ganz anders? Wenn jemand alle Radioinhalte im Netz nach bestimmten Musiktiteln scannen kann, ist das individuell gestaltetes Radio oder etwas ganz anderes?
Die Schrankenregelungen zugunsten des Konsumenten etwa im Schweizer Urheberrechtsgesetz (URG) machen deutlich, dass die gängige Technik der Schrankenbestimmung in sich fragwürdig geworden ist. Gesetzliche Schranken sind statisch. Sie fixieren einen historischen Moment in einem Gesetzgebungsverfahren, in dem bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen mehr oder weniger mit ihrem Wunsch nach einem Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken berücksichtigt werden. Der einmal erzielte Kompromiss wird gesetzlich für alle Zeiten fixiert. Die Regelungen zu den Rechten der Verbraucher im Schweizer URG sind folglich Ausdruck einer statischen, wertkonservativen Gesellschaft, wie sie bis in die sechziger Jahre hinein in Europa bestand. Gesellschaftliche Konflikte im Kampf um den Zugang zu Informationen werden in einer solchen Gesellschaft durch eine einmalige Entscheidung für alle Zeit gelöst.
Die sehr detaillierten Schrankenregeln symbolisieren insoweit den Konsens der sechziger Jahre über die Wertigkeit einzelner gesellschaftlicher Interessen. Die Vorschriften wurden im Laufe der Jahre nur wenig verändert. Neue Technologien – wie Software – wurden auf europäischen Druck hin in das URG aufgenommen. Für diese Fremdkörper schuf man aber separate Schrankenbestimmungen. Eine grundlegendere Diskussion über eine Reform wurde nicht angedacht. Dazu kam eine herrschende Lehre, die im Urheberrecht bedingt durch persönliche Konstellationen fast durchweg verwerterfreundlich gesonnen war. Diese verbot jedwede erweiternde Auslegung, jede analoge Anwendung, jede teleologische Betrachtung der Schranken. Damit näherte sich die Urheberrechtsdoktrin dem Stil eines Pius X., der die Anwendung aller «modernen» Auslegungsmethoden beim Codex Iuris Canonici 1917 verbot – und sich damit gleichzeitig in der rechtstheoretischen Welt ein Denkmal als antimodernistischer Don Quichotte gesetzt hat.
Die Rechtsprechung zum Urheberrecht hat sich jedenfalls nie an das Dogma der engen Auslegung gehalten. Auch wenn sich in einzelnen Urteilen Lippenbekenntnisse zu diesem Grundsatz finden, haben die Gerichte die Schranken bei Bedarf erweitert und ergänzt.
Die Privatkopierfreiheit: Aporien
Und weiter: Das Urheberrecht ist im Zeitalter des Web 2.0 ungerecht geworden. Früher konnte man privates Kopieren auf einem Tonbandgerät oder Videorecorder noch durch Geräteabgaben kompensieren. Wer kopieren will, bezahlte dafür – im Preis seines Kopiergerätes steckte eine Pauschale für das Kopieren, die über die Verwertungsgesellschaften einkassiert und an die Kreativen ausgeschüttet wurde. Aber was ist mit PCs? Sind das Kopiergeräte? Viele nutzen PCs nur für dienstliche Zwecke und haben auf den Festplatten nie einen Song aus Youtube abgespeichert. Aber in vielen Ländern zahlen auch solche Nutzer die Geräteabgabe.
Der Europäische Gerichtshof hat die Mitgliedsstaaten aufgefordert, künftig bei der Berechnung der Geräteabgabe mehr zwischen privat gebrauchten und dienstlich im Einsatz befindlichen Endgeräten zu unterscheiden. Doch wie soll das gehen? Digitale Inhalte sind von ihrer Natur her nicht als «dienstlich» oder «privat» zu erkennen. Und abseits von Spielekonsolen oder DVD-Playern sieht man einem PC oder einem iPad nicht an, wo und wie sie «typischerweise» zum Einsatz kommen.
Und: Heutige DVDs sind meist mit Kopierschutzmechanismen ausgestattet. Css verhindert das Brennen von DVDs zu privaten Zwecken – und das sehr effektiv (wenn man AnyDVD nicht kennt). Wieso bezahlt der private User also eigentlich eine Pauschalabgabe für das private Kopieren (enthalten im Preis seines DVD-Brenners)? Umgeht der User den Kopierschutz, soll das rechtswidrig, wenn nicht gar strafbar sein. Bedauerlicherweise hat die EU-Kommission das Problem zwar erkannt, es in der dafür vorgesehenen EU-Richtlinie zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft aber nicht gelöst. Die EU-Mitgliedsstaaten haben es daher weitestgehend dabei belassen, die Umgehung technischer Sperren selbst bei Berufung auf die Freiheit des Eigengebrauchs zu untersagen. Und so wird gesperrt, was das Zeug hält – und für eine Privatkopierfreiheit kassiert, die es in dieser Form gar nicht mehr gibt.
Noch schlimmer: Streamingdienste sind weltweit über das Web verfügbar. Der Zugriff auf entsprechende Server in China oder der Ukraine erfolgt in Sekundenschnelle und meist kostenlos. Das Internet sorgt für eine enorme Deterritorialisierung des Content; es entstehen Vollstreckungsoasen. Dieser Trend ist nicht umkehrbar. Und er wird von der Geiz-ist geil-Generation gerne angenommen, sind die Inhalte eben auch kostenlos verfügbar.
Und die Lobbyisten?
Die Misere wird noch durch die Ignoranz vieler Lobbyisten der Musik- und Filmindustrie verschärft. Die Contentindustrie hat die Zeichen der Zeit verkannt. Sie setzt immer noch auf veraltete Geschäftsmodelle und hat bis heute kein einziges Web-Geschäftsmodell etablieren können. Sie sanktioniert Piraterie selbst in kleinsten Fällen von P2P-Downloads durch Private und vergrault damit ihre eigene potentielle Kundschaft. Erziehung erfolgt nicht durch Aufklärung über den Wert von Kreativität in den Schulen und Hochschulen, sondern durch Abstrafung in einem solchen Ausmass, dass der deutsche Gesetzgeber ein eigenes Gesetz zum Schutz gegen «unseriöse Geschäftspraktiken» von Abmahnkanzleien verabschieden musste.
Allerdings hat sich auch die Lobbyistenszene im Zeitalter des Web 2.0 verändert. Bislang konnte man sich auf den «implied consent» der klassischen Urheberrechtskreise verlassen, die einander über Jahrzehnte hinweg kannten, sich in den stets gleichen Zirkeln trafen und rechtspolitische Entscheidungen vorab im kleinen Kreis der «Familie» trafen. Dieser «closed shop» hat seine identitätsstiftende Wirkung ab Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verloren. Dies hing vor allem damit zusammen, dass zunehmend Werke über das Urheberrecht geschützt wurden, die nicht dem Kreis der schönen Künste zuzuordnen waren. In dem Masse, wie z.B. Software mit Kunst und Literatur auf eine Stufe gestellt wurde, tauchten zur gruppenpsychologischen Verblüffung der Traditionalisten neue Gesichter in der Urheberrechtsdiskussion auf und reklamierten ihre Rechte.
Mit der Digitalisierung haben die überkommenen Zirkel gänzlich ihre Existenzberechtigung verloren; die Grenzen zwischen Verwertern und Nutzern verwischen seitdem ebenso wie die Aufteilung der Lobbyisten in Sendeanstalten, Verleger oder Musikproduzenten.
Und was macht die Netcommunity? Wenig – sie möselt, bloggt und twittert. Alternative Gegenkonzepte fehlen. Anders als in den USA gibt es in Europa keine wohlorganisierten Vereinigungen von Internetnutzern.
In der Schweiz hat man im Rahmen der Reformdiskussionen rund um Agur12 die Konsumentenschutzverbände eingeladen und in die Diskussion eingebunden. Doch den Konsumentenschützern fehlt das innere Gespür dafür, dass die urheberrechtliche Freiheit des Eigengebrauchs auch zum Schutz der VerbraucherInnen und ihrer Informationsfreiheit eingeführt wurde. Offensichtlich geht es den Verbraucherverbänden immer noch mehr um die Warenwelt des 19. Jahrhunderts, um den besten Kühlschrank und den schlechtesten Toaster, als um die digitale Welt des 21. Jahrhunderts.
Ideen für die Zukunft
Und nun? Was sollen wir tun? Meines Erachtens müssen wir die derzeitige Schrankenregelung etwa zugunsten der Freiheit des Konsumenten neu strukturieren. Zum einen sind die Schranken insgesamt in rechtsvergleichender Perspektive harmonisierungsbedürftig. Es kann einfach nicht richtig sein, dass zum Beispiel die Nutzung digitaler Rundfunkarchive in einigen Ländern frei, in anderen wiederum nur gegen Vergütung oder sogar nur mit Zustimmung der Rechteinhaber zulässig ist. Gerade im Interesse der Rechtssicherheit und des Verkehrsschutzes ist eine transnationale Angleichung der Schranken geboten.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob nicht eine neue Schrankensystematik an die Stelle enumerativer «Ausnahme»-Kataloge treten soll. Was benötigt wird, ist eine Megaschranke, die dynamisch genug ist, um auch künftige technische oder wirtschaftliche Entwicklungen aufzufangen.
Die USA behilft sich hier mit der Schranke des «fair use»: «Fair use» wird danach bestimmt, welchem Zweck die Nutzung dient (insbesondere ob sie kommerzieller Natur ist oder nicht), welcher Art das geschützte Werk ist, wieviel von dem geschützten Werk genutzt wird und welche ökonomischen Wirkungen die Nutzung zur Folge hat. Die Formulierung ist dynamisch und offen für eine einzelfallbezogene Entscheidung durch die Justiz, die insofern unabhängig die Interessen aller Betroffenen gegeneinander abwägen kann – so dass im urheberrechtlichen Dreieck von Kreativen, Verwertern und Nutzern wieder ein Gleichgewicht hergestellt werden kann.
Text: Digitale Allmend/Thomas Hoeren, «Der PC als Kopiermaschine», CC BY-SA 4.0 (international)-Lizenz; Foto: Flickr/Bruno Cordioli, «IBM Portable Personal Computer :: Retrocomputing on the green», CC BY 2.0 (generisch)-Lizenz.