Urteil gegen Vorratsdatenspeicherung in EU-Mitgliedstaaten … und in der Schweiz?

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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich heute zum zweiten Mal deutlich gegen die anlasslose und verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung in der Europäischen Union (EU) ausgesprochen.

Mit seinem ersten Urteil von 2014 hatte das Gericht die EU-eigene Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt. Nun urteilte das oberste Gericht der EU gegen die Regelungen zur allgemeinen Vorratsdatenspeicherung in einzelnen Mitgliedstaaten:

«Das Unionsrecht untersagt eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten. […]»

Das Urteil schliesst eine «gezielte Vorratsdatenspeicherung» in einzelnen Mitgliedstaaten nicht aus, definiert aber hohe Anforderungen:

«[…] Es steht den Mitgliedstaaten aber frei, vorbeugend eine gezielte Vorratsspeicherung dieser Daten zum alleinigen Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen, sofern eine solche Speicherung hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Speicherung auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Der Zugang der nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten muss von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, zu denen insbesondere eine vorherige Kontrolle durch eine unabhängige Stelle und die Vorratsspeicherung der Daten im Gebiet der Union gehören.»

Das Urteil erging in den verbundenen Rechtssachen C-203/15 (Schweden) und C-698/15 (Grossbritannien). In Schweden hatte sich das Telekommunikationsunternehmen Tele2 gegen die Vorratsdatenspeicherung zur Wehr gesetzt.

Deutliche Kritik an Vorratsdatenspeicherung ohne Anlass und Verdacht

In seiner Urteilsbegründung weist der EuGH darauf hin, dass sich Ausnahmen vom Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens gemäss EU-Grundrechtecharta auf das absolut Notwendige beschränken müssen. Ausnahmen dürfen – auch mit Verweis auf das EU-Datenschutzrecht, das die Vertraulichkeit der Kommunikation gewährleistet – nicht zur Regel werden.

Der EuGH kritisiert den besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff der allgemeinen Vorratsdatenspeicherung mit deutlichen Worten:

«In Bezug auf die Vorratsspeicherung stellt der Gerichtshof fest, dass aus der Gesamtheit der gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert wurden, gezogen werden können.

Der Grundrechtseingriff […] ist somit als besonders schwerwiegend anzusehen. Der Umstand, dass die Vorratsspeicherung der Daten vorgenommen wird, ohne dass die Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste darüber informiert werden, ist geeignet, bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist. Deshalb vermag allein die Bekämpfung schwerer Straftaten einen solchen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine Regelung, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung vorsieht, keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verlangt und sich insbesondere nicht auf die Daten eines Zeitraums und/oder eines geografischen Gebiets und/oder eines Personenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, beschränkt. Eine solche nationale Regelung überschreitet somit die Grenzen des absolut Notwendigen und kann nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden, wie es die Richtlinie im Licht der Grundrechtecharta verlangt.»

Hohe Anforderungen für gezielte Vorratsdatenspeicherung bei schweren Straftaten

Eine gezielte Vorratsdatenspeicherung ist gemäss EUGH zur Bekämpfung schwerer Straftaten ausnahmsweise möglich, muss aber hohen Anforderungen genügen. Die entsprechende gesetzliche Grundlage im nationalen Recht muss klar und präzise regeln, welche Kategorien von Daten gespeichert und welche Kommunikationsmittel erfasst werden, welche Personen betroffen sind und wie lange die Vorratsdaten gespeichert bleiben. Die Vorratsdaten müssen auf dem Gebiet der EU gespeichert und nach Ablauf der Speicherfrist unwiderruflich vernichtet werden. Die Speicherung selbst muss sich auf das absolut Notwendige beschränken.

Der Zugang zu Vorratsdaten, die in diesem Rahmen gespeichert sind, muss ebenfalls hohen Anforderungen genügen. Der Zugang muss grundsätzlich vorgängig durch eine unabhängige Stelle wie beispielsweise ein Gericht kontrolliert werden und die betroffenen Personen müssen informiert werden. Der Zugang für Behörden muss gemäss objektiven Kriterien erfolgen.

Die Rechtsprechung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten wird diese hohen Anforderungen ausgestalten müssen.

Zukunft der Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz?

In der Schweiz verpflichtet das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) die Fernmeldedienstanbieter zu einer Vorratsdatenspeicherung von mindestens sechs Monaten (Art. 15 Abs. 3 BÜPF). An dieser Vorratsdatenspeicherung wurde auch im Rahmen der BÜPF-Revision durch Bundesrat und Parlament festgehalten. Und erst vor einigen Wochen hat das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde der Digitalen Gesellschaft gegen die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz abgewiesen.

Die Digitale Gesellschaft ist deshalb mit einer entsprechenden Beschwerde an das Bundesgericht gelangt. Sollte auch das Bundesgericht an der Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz festhalten, hat die Beschwerde der Digitalen Gesellschaft aufgrund der EuGH-Rechtsprechung gute Aussichten auf einen Erfolg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) mit Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

Bild: Pixabay / «geralt», Public Domain-ähnlich.

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