Die Justizöffentlichkeit hat einen schweren Stand in der Schweiz:
Das Bundesgericht und die übrigen Gerichte des Bundes veröffentlichen zwar grundsätzlich ihre Entscheide. Aber alle anderen Behörden und Gerichte veröffentlichen, wenn überhaupt, nur einen ausgewählten Teil ihrer Rechtsprechung und nicht immer online.
Wer ein Urteil bei einem Gericht bestellt, erhält es manchmal gar nicht, nur kostenpflichtig oder erst nach einigem Hin und Her.
Justizöffentlichkeit statt Kabinettsjustiz als Grund- und Menschenrecht
Die betreffenden Gerichte nehmen damit in Kauf, allenfalls den menschen- und verfassungsrechtlichen Anspruch auf Justizöffentlichkeit zu verletzen:
«Art. 30 Abs. 3 BV verankert das auch von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 UNO-Pakt II […] vorgesehene Prinzip der Justizöffentlichkeit. Diese erlaubt Einblick in die Rechtspflege und sorgt für Transparenz gerichtlicher Verfahren. Damit dient sie einerseits dem Schutze der direkt an gerichtlichen Verfahren beteiligten Parteien im Hinblick auf deren korrekte Behandlung und gesetzmässige Beurteilung. Andererseits ermöglicht die Justizöffentlichkeit auch nicht verfahrensbeteiligten Dritten nachzuvollziehen, wie gerichtliche Verfahren geführt werden, das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird. Die Justizöffentlichkeit bedeutet eine Absage an jegliche Form der Kabinettsjustiz, will für Transparenz der Rechtsprechung sorgen und die Grundlage für das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit schaffen. Der Grundsatz ist von zentraler rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung. Die demokratische Kontrolle durch die Rechtsgemeinschaft soll Spekulationen begegnen, die Justiz benachteilige oder privilegiere einzelne Prozessparteien ungebührlich oder Ermittlungen würden einseitig und rechtsstaatlich fragwürdig geführt […].»
(BGE 139 I 129, E 3.3)
Im Kanton Zürich beispielsweise fordert das Obergericht bei Bestellungen für (noch) nicht veröffentlichte Entscheide «genaue Angaben» von Personen, die ein Urteil bestellen. Das Gericht behauptet unter anderem, für Urteilsbestellungen sei ein «schutzwürdiges Informationsinteresse» notwendig. Bei einer Bestellung für ein älteres Urteil argumentierte das Gericht damit, dass ein erheblicher Kosten- und Zeitaufwand notwendig sei um einen solchen Entscheid in der Datenbank oder gar im Archiv zu suchen sowie zu anonymisieren. In einem Fall lehnte das Zwangsmassnahmengericht eine Urteilsbestellung schlicht mit Verweis auf seine Praxis ab.
«Tagung zur Urteilsöffentlichkeit» am 11. Januar 2018 in Zürich
Das Obergericht des Kantons Zürich ist kein Einzelfall. Aus diesem Grund freut es mich, dass die Universität St.Gallen (HSG) am 11. Januar 2018 in Zürich die erste «Tagung zur Urteilsöffentlichkeit» durchführt (Flyer):
«Auch wenn der Wortlaut der Bundesverfassung lediglich eine öffentliche Urteilsverkündung verlangt, vermag eine mündliche Verlesung des Urteils dem Anspruch auf Urteilsöffentlichkeit heute nicht mehr zu genügen. Die Zivilprozessordnung, das Bundesgerichtsgesetz und auch gewisse Kantonsverfassungen verlangen sogar explizit, dass Gerichtsentscheide der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind. Was bedeutet das konkret für die Gerichte? Müssen oder sollten im digitalen Zeitalter sämtliche Urteile im Internet abrufbar sein? Ist das überhaupt möglich? Wie wird die Urteilsöffentlichkeit auf Bundesebene und in den verschiedenen Kantonen gehandhabt? Und welche Entscheide hat das Bundesgericht in jüngster Zeit zum Thema Urteilsöffentlichkeit gefallt? Dies sind die Fragen, welche an der Tagung zur Urteilsöffentlichkeit im Zentrum stehen. Die Tagung richtet sich sowohl an RichterInnen und GerichtsschreiberInnen als auch an GeneralsekretärInnen von Gerichten sowie an VertreterInnen aus der Justizverwaltung und der Wissenschaft.»
Prof. Daniel Hürlimann von der Tagungsleitung hat mir versichert, dass auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte willkommen sind.
An der Tagung wird Prof. Hürlimann gemeinsam mit Prof. Benjamin Schindler einen «Überblick über Lehre und Rechtsprechung zum Thema Urteilsöffentlichkeit und Ergebnisse der Umfrage zur Publikationspraxis in den Kantonen» geben. Danach werden Anwaltskollegin Claudia Schreiber über die «Wünschbarkeit einer umfassenden Urteilsöffentlichkeit aus Anwaltssicht» und Lukas Huber, stellvertretender Generalsekretär am Obergericht des Kantons Zürich, über «Gesetzgebung und Praxis zur Urteilsöffentlichkeit im Kanton Zürich» reden.
Abgeschlossen wird die Tagung mit einer Podiumsdiskussion, an der Thomas Hasler (Tages-Anzeiger) zu den Referenten stossen wird. Die Diskussion wird von Dominique Strebel (unter anderem investigativ.ch) moderiert.