Hater, Stalker und Trolle dürfen sich freuen: Bundesrat und Staatsanwälte kapitulieren vor Ehrverletzungen im Internet

Symbolbild: CybercrimeDer Bundesrat möchte die «Praxistauglichkeit der Strafprozessordnung verbessern». Wer genau hinschaut, so beispielsweise der Journalist Kari Kälin von der Luzerner Zeitung, entdeckt im Vorentwurf einen brisanten Vorschlag:

Die Strafbarkeit von Ehrverletzungen wie Beschimpfung und übler Nachrede soll faktisch abgeschafft werden. Hater, Stalker und Trolle dürfen sich freuen!

Ehrverletzungen, auch im digitalen Raum, können bestraft werden. Sie werden aber nur verfolgt, wenn das Opfer rechtzeitig einen Strafantrag stellt. In Zukunft soll ein solcher Strafantrag für Opfer gemäss dem geplanten Artikel 303a der Strafprozessordnung (StPO) kostenpflichtig sein können:

«Bei Ehrverletzungsdelikten kann die Staatsanwaltschaft die strafantragstellende Person auffordern, innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen Sicherheit zu leisten.»

Und:

«Wird die Sicherheit nicht fristgerecht geleistet, so gilt der Strafantrag als zurückgezogen.»

Wenn ein Opfer von Cyberstalking nicht in der Lage ist, einen Kostenvorschuss («Sicherheit») zu leisten, findet kein Strafverfahren gegen den Stalker statt. Da sich viele Opfer eine solche «Kaution» nicht leisten können, würden die Ehrverletzungsdelikte (Art. 173 ff. StGB) faktisch abgeschafft.

Kostenvorschuss: «kann»-Bestimmung im Gesetz, «fast immer»-Bestimmung im Rechtsalltag

Der neue Artikel ist als «kann»-Bestimmung formuliert. Allerdings gehe ich davon aus, dass ein Kostenvorschuss zur Regel werden wird:

  • Einerseits stammt die Forderung von Staatsanwaltschaften, die sich darüber beklagen, Verfahren wegen Ehrverletzungen führen zu müssen. Die Staatsanwaltschaften werden die neue Möglichkeit so häufig wie möglich nutzen, um sich scheinbare «Bagatellfälle» vom Hals zu halten. Ein solcher Kostenvorschuss könnte 500 Franken, je nach Angelegenheit aber auch mehrere 1’000 Franken betragen. Die Kantone begrüssen den Vorschlag oder möchten gar einen Mindestbetrag für den Kostenvorschuss verankern.
  • Andererseits kennt die Zivilprozessordnung schon seit einiger Zeit mit Art. 98 ZPO eine vergleichbare «kann»-Bestimmung für Gerichte. Im Gerichtsalltag wird fast immer ein Kostenvorschuss gefordert, das heisst die «kann»-Bestimmung wurde zu einer «fast immer»-Bestimmung. Im Ergebnis ist der Zugang zur Justiz in der Schweiz eine Geldfrage («Klassenjustiz»).

Schon heute: Schwierige Ausgangslage für Opfer von Ehrverletzungsdelikten

Der Bundesrat unterstellt den Opfern von Ehrverletzungen, der Antrieb «für eine Anzeige» liege «oftmals eher im Wunsch nach persönlicher Vergeltung liegt als in der Tatsache einer Rechtsgutverletzung.» Im Kanton Zürich behauptete Oberstaatsanwalt Beat Oppliger sogar, es sei «fatal», dass «eine Anzeige nichts koste.» Die Behörden verhöhnen mit solchen Aussagen die Opfer von Ehrverletzungen, wie sie auf Social Media und anderswo im Internet leider häufig geworden sind.

Opfer von Ehrverletzungsdelikten haben es heute schon schwierig:

  • Wenn Opfer überhaupt die Kraft für einen Strafantrag finden, müssen sie eine kurze Antragsfrist von drei Monaten einhalten. Strafanträge bleiben manchmal unbearbeitet liegen. Ein Opfer, das sich keinen Rechtsanwalt leisten kann, der hartnäckig bei der zuständigen Staatsanwaltschaft nachhakt, hat schlechte Karten.
  • In jedem Fall muss ein Opfer überhaupt in der Lage sein, ein Strafverfahren, das viel Zeit in Anspruch nehmen kann, durchzustehen. Weiter muss das Opfer selbst im besten Fall damit rechnen, die eigenen Kosten für das Strafverfahren weitgehend selbst tragen zu müssen.
  • Ausserdem kann die Staatsanwaltschaft jederzeit zu einer Vergleichsverhandlung vorladen, das heisst das Opfer wird mit der mutmasslichen Täterschaft direkt konfrontiert und dadurch allenfalls nochmals verletzt. Verweigert das Opfer die Teilnahme, gilt der Strafantrag als zurückgezogen und die mutmassliche Täterschaft kommt davon. Wenn die Vergleichsverhandlung stattfindet, werden Opfer – gerade auch solche ohne anwaltliche Begleitung – häufig unter Druck gesetzt, sich mit dem Hater oder Stalker zu einigen.

Dabei können Personen, die ein Strafverfahren grob fahrlässig oder mutwillig verursachen, heute schon Kosten auferlegt werden (Art. 427 Abs. 2 StPO). Allerdings kommt es selten dazu, denn wenn ein Opfer ausnahmsweise einen Strafantrag stellt, dann nicht mutwillig. Die meisten Opfer verzichten auf rechtliche Schritte.

Falsches Signal: Kapitulation vor Hatern, Stalkern und Trollen

Bundesrat und Staatsanwaltschaften setzen mit ihrer Forderung nach einer faktischen Abschaffung der Strafverfolgung bei Ehrverletzungen ein falsches und verheerendes Signal, auch international:

Die Schweiz würde vor den vielen Ehrverletzungen, insbesondere im digitalen Raum, kapitulieren. Trolle und andere Personen, die Hass verbreiten oder Stalking betreiben, hätten es noch einfacher als heute, sich einer Bestrafung zu entziehen. Die Schweiz könnte zu einer Insel für Hass im Internet werden.

Die Forderungen sind ein Armutszeugnis für Bundesrat und Staatsanwaltschaften:

Staatsanwaltschaften sind teilweise mit Strafanträgen wegen Ehrverletzungen tatsächlich überfordert. Dieses Problem sollte aber nicht auf Kosten der Opfer gelöst werden, indem man den Zugang zu den Strafverfolgungsbehörden erschwert oder verunmöglicht.

Die richtige Antwort wäre, dass die Staatsanwaltschaften ihre Effizienz verbessern, insbesondere mit digitalen Hilfsmitteln und bei der internationalen Rechtshilfe. Bei Staatsanwaltschaften, die bereits effizient genug arbeiten, muss allenfalls die Zahl der Mitarbeiter erhöht werden, denn diese hält vielerorts nicht Schritt mit dem Wachstum der Bevölkerung und mit immer neuen Straftatbeständen.

Behörden und Staatsanwälte dürfen selbstverständlich fordern, dass Ehrverletzungen nicht mehr strafbar sein sollen:

Viele Opfer stellen heute überhaupt nur Strafantrag, weil sie sich ein zivilrechtliches Vorgehen gegen Persönlichkeitsverletzungen – zum Beispiel mit vorsorglichen Massnahmen – nicht leisten können oder diese Möglichlichkeit gar nicht kennen. So ist ein Strafverfahren beispielsweise nicht geeignet, um so schnell wie möglich gegen Hassrede im Internet oder gegen Stalking einer bereits identifizierten Person vorzugehen.

Eine allfällige Diskussion über die Strafbarkeit von Ehrverletzungen müsste demokratisch und offen geführt werden. Bundesrat und Staatsanwaltschaften getrauen sich offensichtlich nicht, eine solche Diskussion zu führen. Sie befürchten vermutlich, dass die Abschaffung der Ehrverletzungen im Strafgesetzbuch nicht mehrheitsfähig wäre und versuchen deshalb die faktische Abschaffung durch die Hintertür der verbesserten «Praxistauglichkeit der Strafprozessordnung».

Bild: Pixabay / TheDigitalArtist, Public Domain-ähnlich.

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