Mit Urteil 6B_1188/2018 vom 26. September 2019 entschied das Schweizerische Bundesgericht erstmals über die Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen in einem Strafverfahren.
Das Bundesgericht entschied, dass die privaten Dashcam-Aufnahmen im vorliegenden Fall nicht verwertbar waren:
«Die Videoaufzeichnung erfolgte in Missachtung von Art. 4 Abs. 4 DSG und ist damit rechtswidrig. Die Vorinstanz qualifizierte das Verhalten der Beschwerdeführerin teils als einfache, teils als grobe Verletzung der Verkehrsregeln […]. Dabei handelt es sich um Übertretungen und Vergehen, die nach der Rechtsprechung nicht als schwere Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zu qualifizieren sind […]. Dieser Massstab ist auch bei der Verwertung privat erhobener Beweise anzuwenden […], was dazu führt, dass die Interessenabwägung zuungunsten der Verwertung ausfällt […].»
Die heimlichen Dashcam-Aufnahmen hatten einerseits mangels Erkennbarkeit das Datenschutzgesetz (DSG) verletzt. Die betreffenden Verkehrsregelverletzungen waren andererseits keine schweren Straftaten, die eine Verwertung von rechtswidrigen Dashcam-Aufnahmen zu Lasten der beschuldigten Person erlaubt hätten.
Vorgeschichte: Knappes Überholmanöver auf der Autobahn
Eine Fahrzeuglenkerin, die wegen mehrfacher, teilweise grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 16’500 Franken sowie zu einer Verbindungsbusse von 4’000 Franken verurteilt worden war, hatte Beschwerde erhoben.
Der Tages-Anzeiger beschreibt (mit Bild), was zur Verurteilung geführt hatte:
«Die Bilder der Dashcam eines VW-Fahrers zeigen es gestochen scharf: Eine Jeep-Fahrerin überholt auf der A51 bei Bachenbülach auf der baustellenbedingt verengten Normalspur rasant und schwenkt knapp vor dem VW wieder auf die Überholspur.»
Die Beschwerde wurde gutgeheissen und das Urteil SB180251 des Obergerichts des Kantons Zürich als Vorinstanz aufgehoben. Nun muss sich das Obergericht nochmals mit der Angelegenheit befassen.
Urteilsbegründung: Dashcam-Aufnahmen als heimliche Datenbearbeitung …
Mit Verweis auf sein Google Street View-Urteil von 2012 bestätigte das Bundesgericht, dass das «Erstellen von Aufnahmen im öffentlichen Raum, auf welchen Personen oder Autokennzeichen erkennbar sind, […] ein Bearbeiten von Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a und lit. e des Bundesgesetzes über den Datenschutz» darstellt.
In diesem Zusammenhang gilt der Grundsatz der Erkennbarkeit:
«Art. 4 Abs. 4 DSG bestimmt, dass die Beschaffung von Personendaten und insbesondere der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein muss. Die Missachtung dieses Grundsatzes stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar (Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG).»
Und:
«Die Erstellung von Videoaufnahmen aus einem Fahrzeug heraus ist für andere Verkehrsteilnehmer nicht ohne Weiteres erkennbar. Die Datenbearbeitung ist damit als heimlich im Sinne von Art. 4 Abs. 4 DSG zu qualifizieren.»
Die Erkennbarkeit könnte auch mit Hinweisschildern an Fahrzeugen nicht gewährleistet werden:
«[Es] würden auch allfällige am Fahrzeug angebrachte Hinweisschilder daran nichts ändern, zumal solche bei grossem Verkehrsaufkommen oder auf Distanz nur schwer zu erkennen sind und die betroffenen Personen diese – wenn überhaupt – erst wahrnehmen, wenn sie bereits gefilmt werden. Zudem sind Fahrzeugführer verpflichtet, ihre Aufmerksamkeit dem Verkehrsgeschehen zu widmen, weshalb von ihnen nicht erwartet werden kann, dass sie nach Hinweisen an anderen Fahrzeugen Ausschau halten […].»
… und widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung mangels Rechtfertigungsgrund
«Eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 12 DSG ist gemäss Art. 13 Abs. 1 DSG [nur] widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund – namentlich ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse – vorliegt.»
Ein solcher Rechtfertigungsgrund lag nicht vor, zumal die Interessenabwägung strafprozessrechtlich und nicht datenschutzrechtlich zu erfolgen hatte:
«In der Doktrin wird teilweise die Auffassung vertreten, dass solche materiellrechtlichen Rechtfertigungsgründe die Rechtswidrigkeit einer (privaten) Beweiserhebung im verfahrensrechtlichen Kontext nicht zu heilen vermögen. Massgebend sei einzig, dass im Rahmen der Beschaffungshandlung gegen eine Bestimmung des materiellen, objektiv gesetzten schweizerischen Rechts verstossen worden sei. Die Rechtswidrigkeit folge damit im Verfahrensrecht einer autonomen Definition. […] Dieser Auffassung ist beizupflichten. Bei der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 13 Abs. 1 DSG vorliegt, ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Datenbearbeiters und denjenigen der verletzten Person vorzunehmen […]. Bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels sind hingegen der Strafanspruch des Staates und der Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren in erster Linie entscheidend; die Interessen des privaten Datenbearbeiters treten dabei zurück.»
Hintergrund: Verwertbarkeit von rechtswidrig erlangten privaten Beweismitteln
«Die Strafprozessordnung enthält Bestimmungen zu den verbotenen Beweiserhebungen (Art. 140 StPO) und zur Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise (Art. 141 StPO). Wieweit die Beweisverbote auch greifen, wenn nicht staatliche Behörden, sondern Privatpersonen Beweismittel sammeln, wird in der Strafprozessordnung nicht explizit geregelt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht in Anlehnung an die Doktrin davon aus, dass von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel nur verwertbar sind, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht […].»
Und:
«[…] Hinsichtlich staatlich erhobener Beweise nimmt Art. 141 Abs. 2 StPO eine solche Interessenabwägung nunmehr selber vor. Demnach dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich. Aus der Sicht der beschuldigten Person ist es unerheblich, durch wen die Beweise erhoben worden sind, mit welchen sie in einem gegen sie gerichteten Strafverfahren konfrontiert wird. Es erscheint deshalb angemessen, bei der Interessenabwägung im Sinne der oben erwähnten Rechtsprechung denselben Massstab wie bei staatlich erhobenen Beweisen anzuwenden und Beweise, die von Privaten rechtswidrig erlangt worden sind, nur zuzulassen, wenn dies zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist. […]»
Wenn es beim knappen Überholmanöver zu einem Unfall gekommen wäre, hätten die Dashcam-Aufnahmen im Strafverfahren allenfalls zu Lasten der Fahrzeuglenkerin verwertet werden können.
Siehe auch: Medienmitteilung des Schweizerischen Bundesgerichts vom 10. Oktober 2019.
(Vielen Dank an die Anwaltskollege Markus Trottmann und Diego Oppenheim für Ihre Hinweise!)
Bild: Pixabay / janrye , Public Domain-ähnlich.
Was bedeutet dies nun für ein Fahrzeug, wie zum Bspl. das Tesla Model3 , welches unsichtbar 8 fix eingebaute Kameras hat ?
Diese Kameras werden für den Autopiloten für das autonome Fahren benötigt . Man kann davon 4 Video Aufnahmen (Sicht vorn, links, rechts und nach hinten) auf einem Datenstick aufzeichnen und erhält so eine quasi 360 Grad rundum simultan Video Bild.
Das ist eigentlich die gleiche Situation. Tesla zeichnet bietet die Möglichkeit Aufnahmen zu machen, macht dies aber nicht von Haus aus. Das heisst, der Benutzer muss aktiv etwas machen (USB Stick, Folder auf dem Stick erstellen), damit aufgenommen wird.
@Oesch Werner:
Dashcams sind in der Schweiz auch nach diesem Urteil nicht verboten, sondern «bloss» in vielen Fällen persönlichkeitsverletzend. Ob eine solche Persönlichkeitsverletzung widerrechtlich ist, muss im Einzelfall entschieden werden.
Dashcam-Aufnahmen können im Übrigen auch bei Übertretungen und Vergehen in Strafverfahren verwertet werden, nämlich entlastend. Insofern kann es weiterhin sinnvoll sein, sich mit Dashcam-Aufnahmen abzusichern. (Im Idealfall sind die Aufnahmen verschlüsselt, so dass man selbst über die Verwendung entscheiden kann …)