In der Schweiz sollen Analysen und Visualisierungen im Zusammenhang mit Überwachungsmassnahmen legalisiert und der Überwachungsstaat weiter ausgebaut werden.
Die geplanten Anpassungen verstecken sich im Entwurf zum Bundesgesetz über administrative Erleichterungen und die Entlastung des Bundeshaushalts, wie die Digitale Gesellschaft aufdeckt.
Das neue Gesetz sieht unter anderem die Legalisierung der Analyse und Visualisierung von Daten aus der Massenüberwachung der schweizerischen Bevölkerung vor, wie der Bundesrat in seinem erläuternden Bericht schreibt:
«[Es] soll weiter die Rechtsgrundlage geschaffen werden, damit Daten im Verarbeitungssystem des Dienstes ÜPF analysiert und deren Ergebnisse visualisiert werden können. Daraus können weitreichende Schlüsse über Personennetzwerke sowie Kommunikations- und Bewegungsgewohnheiten gezogen werden.»
Und:
«[…] Für die Datenanalyse im Verarbeitungssystem fehlt jedoch eine explizite Gesetzesgrundlage. […] Da im Verarbeitungssystem des Dienstes Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (Dienst ÜPF) besonders schützenswerte Personendaten bearbeitet werden, reicht dazu eine Verordnungsbestimmung nicht aus.»
Und weiter:
«Mit dieser Funktion lassen sich die im System bereits enthaltenen Daten [wie Geoinformationen] direkt analysieren und deren Ergebnisse zum Beispiel in Form von Schaubildern visualisieren. Mit diesen Analysen können in Ermittlungsverfahren Kenntnisse über Aktivitäten, soziale Netzwerke und das Verhalten von überwachten Personen gewonnen werden.»
Analysen und Visualisierungen bei Strafverfolgungsbehörden
Auch im Bericht schreibt der Bundesrat, dass solche Analysen und Visualisierungen bei den Strafverfolgungsbehörden – teilweise an Private ausgelagert – bereits stattfinden:
«Die Strafverfolgungsbehörden müssen Analysen deswegen extern in Auftrag geben oder je für sich eine entsprechende Software beschaffen, obwohl das Verarbeitungssystem des Dienstes ÜPF bereits über eine solche Funktion verfügt.»
Damit stellt sich die Frage, wieso der Dienst ÜPF über Software mit einer Funktion verfügt, die mangels Rechtsgrundlagen offensichtlich nicht rechtmässig ist:
Wieso beschafft der Dienst ÜPF mit einem Aufwand von offiziell über 100 Millionen Franken neue Software, deren Funktionsumfang über die bestehenden Rechtsgrundlagen hinausgeht?
Legalisierung von Analysen und vereinfachte Abrechnung für Sicherheitsbehörden
Für die Legalisierung der Analysen soll das Überwachungsgesetz BÜPF angepasst werden (Art. 7 lit. d BÜPF, Art. 8 lit. d u. e BÜPF).
Die Daten stammen insbesondere aus der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Massenüberwachung der Bevölkerung in der Schweiz im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung. Auch der grösste schweizerische Geheimdienst, der Nachrichtendienst des Bundes (NDB), darf auf Daten beim Dienst ÜPF zugreifen.
Weiter sieht das neue Gesetz unter anderem vor, die Kosten der Überwachung zu pauschalisieren und damit die Abrechnung gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu vereinfachen.
Zusätzlich sollen Fernmeldedienstanbieter, Internet-Unternehmen und andere private Beteiligte am schweizerischen Überwachungsstaat verpflichtet werden können, Auskünfte kostenlos erteilen zu müssen anstatt dafür – wie heute – zumindest teilweise entschädigt zu werden (Art. 21 ff. BÜPF). Damit würden Überwachungsmassnahmen durch tiefere Kosten – auf Kosten der Kunden der beteiligten Unternehmen – erleichtert.
«Der Zweck heiligt die Mittel» statt Rechtsstaat
Niemand lehnt «administrative Erleichterungen» und eine «Entlastung des Bundeshaushalts» ab. Diese Ausgangslage missbraucht der Bundesrat, um die Legalisierung von neuen Überwachungsmassnahmen und den weiteren Ausbau des Überwachungsstaates in einem Gesetz zu verstecken, das auf den ersten Blick ein ausschliessliche Finanzvorlage darstellt.
Der Bundesrat versucht damit, die notwendige politische Diskussion über den weiteren Ausbau des schweizerischen Überwachungsstaates zu verhindern. Sind die Analysen und Visualisierungen überhaupt verhältnismässig, das heisst erforderlich, geeignet und zumutbar (Art. 36 BV)?
Gleichzeitig zeigt das Beispiel einmal mehr, dass für Sicherheitsbehörden in der Schweiz der Zweck die Mittel heiligt. Was irgendwie möglich ist, wird hinter verschlossenen Türen gemacht und im besten Fall nachträglich legalisiert. Sicherheitsbehörden, welche ohne Rechtsgrundlagen operieren, bleiben unbehelligt.
Die Schweiz verdient es nicht, als Rechtsstaat bezeichnet zu werden. Ein Rechtsstaat zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass der Zweck gerade nicht die Mittel heiligt.
Siehe auch: Big Brother Awards 2019 für Geheimjustiz, Geheimjustiz für den Geheimdienst.
Welcher Staat kann als Rechtsstaat bezeichnet werden?
Die Frage sollte m.E. eher lauten: Wieviel Staat bzw. staatliches Handeln lassen wir zulasten unserer Privatsphäre (noch) zu?
Toller Artikel Herr Steiger, besten Dank. Das mit der illegalen Überwachung kann ich zu 100% bestätigen. Denn auch ich wurde ein Überwachungsopfer durch Justizwillkür, Gerichten und dem ÜPF.
Wiederum sehr guter Artikel von Ihnen. Auch mutig. Hätte ich nicht erwartet. Lassen Sie sich nur nicht entmutigen (ProtonMail)! Sie liegen schon richtig. Frohe Weihnachten.
…»Die Schweiz verdient es nicht, als Rechtsstaat bezeichnet zu werden»… Sie sprechen ein wahres Wort gelassen aus. MMn. meinen viele «Schweizer» in einem Rechtstaat zu leben, bis sie es mit ihm zu tun bekommen.