Heiratsstrafe: Was hat der Bundesrat zu verbergen?

Bild: Schweizerischer Bundesrat (1848)Der Bundesrat möchte nicht offenlegen, wie genau er im bundesgerichtlichen Verfahren zur Volksabstimmung über die Heiratsstrafe argumentierte. Was hat der Bundesrat zu verbergen?

Mit Urteil vom 10. April 2019 annullierte das Bundesgericht unerwartet die Volksabstimmung über die Heiratsstrafe in der Schweiz (BGE 145 I 207).

Hintergrund war die Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP). Die Initiative war in der Volksabstimmung mit einem Nein-Anteil von 50,8 % abgelehnt worden.

Mehrere CVP-Politiker erhoben danach Abstimmungsbeschwerde und verlangten insbesondere die Aufhebung der Abstimmung.

Am Verfahren beteiligt waren unter anderem der Schweizerische Bundesrat und die Bundeskanzlei. Gemäss Bundesgerichtsurteil stellte der Bundesrat die Anträge, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten oder sie sei abzuweisen, und reichte auch eine Replik beziehungsweise Stellungnahme ein.

Dokument: Schreiben der Bundeskanzlei mit verweigerter Auskunft

Auf Anfrage hin weigerte sich die Bundeskanzlei, die entsprechenden Dokumente herauszugeben. Die Anfrage hatte sich auf das Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) und das öffentliche Interesse bezogen.

Die Bundeskanzlei argumentierte insbesondere formaljuristisch, wonach der Bundesrat nicht vom BGÖ erfasst sei. Gleichzeitig stellte die Bundeskanzlei in Aussicht, mit Blick auf das erwähnte öffentliche Interesse abzuklären, «ob die Dokumente in elektronischer Form allgemein publiziert werden könnten.»

Einen Monat später teilte der zuständige Jurist mit, Abklärungen hätten ergeben, dass die Dokumente nicht veröffentlicht werden könnten. Auf Nachfrage hin wurde erklärt, dass keine Ermächtigung des Bundesrates vorliege.

Im Klartext: Der Bundesrat möchte nicht, dass seine Anträge und seine Replik beziehungsweise Stellungnahme im Verfahren öffentlich werden.

Was hat der Bundesrat zu verbergen?

Im Verfahren hätte der Bundesrat das Stimmvolk, das die Volksinitiative abgelehnt hatte, vertreten müssen. Es ist deshalb von öffentlichem Interesse zu wissen, wie genau der Bundesrat argumentierte.

So hatte der Bundesrat die CVP-Volksinitiative ursprünglich befürwortet und die federführende Bundeskanzlei wird von CVP-Bundeskanzler Walter Thurnherr geführt.

Ob sich der Bundesrat unter diesen Umständen engagiert genug dafür einsetzte, dass das Bundesgericht den Volkswillen respektiert anstatt die Volksabstimmung zu annullieren?

Für die CVP war das unerwartete Bundesgerichtsurteil ein Pyrrhussieg. Die Berichterstattung über das Bundesgerichtsurteil half zwar sicherlich im Wahlkampf 2019, betroffene Ehepaare und Rentner zu Gunsten der CVP an die Wahlurne zu locken. Aber nun sieht sich die CVP gezwungen, die Volksinitiative zurückzuziehen.

Wer behauptet, der Rückzug erfolge in erster Linie aufgrund der verunglückten Definition der Ehe als «Lebensgemeinschaft für Mann und Frau», übersieht die Bedeutung der Zahlen zu den betroffenen Ehepaare, die im Vorfeld der Volksabstimmung mit 80’000 falsch kommuniziert worden waren.

Abenteuerlicher Zahlensalat am Bundesgericht

Bundesgericht und CVP gehen davon aus, dass die richtige Zahl von über 450’000 betroffenen Ehepaaren vermutlich zu mehr Ja-Stimmen geführt hätte. Dabei wäre das Gegenteil zu erwarten gewesen.

Ehepaare konnten und können sehr einfach ermitteln, ob sie bei der direkten Bundessteuer finanziell unter der Heiratsstrafe leiden. Die Zahl der Ehepaare, die wissentlich von der Heiratsstrafe betroffen waren und sind, änderte sich deshalb durch die falschen Informationen nicht.

Alle anderen Stimmberechtigten hingegen hätten sich in Kenntnis der richtigen Zahl der betroffenen Ehepaare fragen müssen, ob sie die Mehrkosten in Milliardenhöhe in Kauf nehmen wollten. Diese finanziellen Folgen wären erheblich gewesen, weil die Volksinitiative nicht allein die Heiratsstrafe abschaffen wollte. Die Volksinitiative erweckte auch den Eindruck, dass Ehepaare höhere AHV-Renten erhalten würden.

Beim «Wichtigsten in Kürze» im Bundesbüchlein waren die Kosten im Rahmen von 80’000 betroffenen Ehepaaren gar nicht erwähnt worden, sondern erst auf Seite 9 von 9 zu finden. Wie kam die Bundeskanzlei dazu, die Kosten nicht für wichtig zu halten?

Unter diesen Umständen ist fraglich, ob die CVP tatsächlich versuchen wird, die erforderlichen 100’000 beglaubigten Unterschriften für eine neue Volksinitiative ohne verunglückte Ehe-Definition zu sammeln.

Die Mehrkosten könnten bei einer weiteren Volksabstimmung nicht erneut falsch kommuniziert werden, so dass mit einer deutlichen Ablehnung der Volksinitiative durch das Stimmvolk zu rechnen wäre.

Im Ergebnis sitzt die CVP in der Falle und hat keinen Fluchtweg. Böse Zungen könnten behaupten, diese Catch-22-Situation erkläre, wieso sich die CVP und ihr Bundeskanzler unbeirrt für E-Voting in der Schweiz einsetzen, bei dem das Ergebnis bekanntlich nicht den abgegebenen Stimmen entsprechen muss …

Bild: Wikimedia Commons, Schweizerischer Bundesrat (1848), Public Domain.


Nachtrag vom 12. Februar 2020

Gemäss heutiger Medienmitteilung der Schweizerischen Bundeskanzlei zieht die CVP ihre Volksinitiative definitiv zurück:

«Der Bundesrat ist am 12. Februar 2020 von der Bundeskanzlei darüber informiert worden, dass am 4. Februar 2020 eine von der Mehrheit des Initiativkomitees unterzeichnete Rückzugserklärung zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» bei der Bundeskanzlei eingegangen ist. Der Bundesrat nimmt vom Rückzug der Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» Kenntnis und wird diese Volk und Ständen nicht erneut zur Abstimmung unterbreiten. Die Mitteilung des Rückzugs wird voraussichtlich am 18. Februar 2020 im Bundesblatt publiziert werden.»

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Felder mit * sind Pflichtfelder.