SwissCovid-App und der gefährliche 60 Prozent-Irrtum

Icon: SwissCovid-App

Rund um die SwissCovid-App, die einen Beitrag zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie in der Schweiz leisten soll, kursieren viele Irrtümer.

Ein besonders weit verbreiteter Irrtum: Proximity-Tracking mit einer solchen App könne seinen Zweck nur erfüllen, wenn die App von 60 Prozent der Bevölkerung genutzt werde.

Diese Annahme ist falsch. App-basiertes Proximity-Tracking kann auch mit einer weniger breiten Nutzung seinen Zweck erfüllen.

Wieso ist die Zahl von 60 Prozent irreführend?

Die häufig genannte Zahl von 60 Prozent geht auf einen Bericht der Universität Oxford vom April 2020 zurück.

Im Bericht heisst es allerdings nicht, eine App wie die SwissCovid-App sei nur wirksam, wenn sie von 60 Prozent der Bevölkerung genutzt werde.

Der Bericht der Universität Oxford erklärt, dass auch eine weniger breite Nutzung die Zahl der Personen, die am Coronavirus erkranken oder an COVID-19 sterben, reduzieren kann (mit Hervorhebung):

«Our results suggest a digital contact tracing app, if carefully implemented alongside other measures, has the potential to substantially reduce the number of new coronavirus cases, hospitalisations and ICU admissions. Our models show we can stop the epidemic if approximately 6 0% of the population use the app, and even with lower numbers of app users, we still estimate a reduction in the number of coronavirus cases and deaths.»

Mit einer Nutzung durch ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung könne die Pandemie gestoppt werden, so die Wissenschaftler. Aber auch eine geringere Zahl von App-Nutzern wirke sich positiv aus, denn für jeweils ein bis zwei App-Nutzer könne eine Infektion verhindert werden (mit Hervorhebung):

«Our models show we can stop the epidemic if approximately 60 % of the whole population use the app and adhere to the app’s recommendations. Lower numbers of app users will also have a positive effect; we estimate that one infection will be averted for every one to two users.»

Es wäre selbstverständlich erfreulich, wenn allein die breite Nutzung einer solchen App die Pandemie stoppen könnte. Und genauso selbstverständlich wäre es erfreulich, wenn möglichst viele Menschen in der Schweiz die SwissCovid-App nutzen würden.

Allerdings ist zu beachten, dass das App-basiertes Proximity-Tracking kein Selbstläufer ist:

Ansteckende Personen müssen durch Testing ermittelt werden, damit andere App-Nutzer alarmiert werden können. Quarantäne und Isolation von betroffenen Personen, die ansteckend sind oder sein könnten, müssen funktionieren. Es braucht funktionierende vor- und nachlaufende Prozesse bei Behörden und im Gesundheitswesen.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass niemand behauptet, die Pandemie könne allein durch die Nutzung einer solchen App gestoppt werden. Die App ist lediglich ein Element einer – hoffentlich früher oder später – erfolgreichen Bekämpfung der COVID-19-Pandemie.

Der Bericht erwähnt denn auch ausdrücklich, dass in Verbindung mit anderen Massnahmen die Pandemie mit einer weniger breiten App-Nutzung gestoppt werden könne:

«Our models suggest we need around 56 % of the total population to use the app to completely suppress the epidemic, if combined with ‘shielding’ of over 70s […]. Usage requirement may be lower if the app is used in conjunction with further social distancing interventions. Lower usage has the effect of slowing resurgence and potentially delaying the start of a second lock down.»

Als weitere Massnahmen werden ausdrücklich der Schutz von Menschen über 70 Jahren – sie sind häufig keine aktiven Smartphone-Nutzer – und «Social Distancing» genannt.

Wieso hat der Irrtum eine datenschutzrechtliche Bedeutung?

Die allenfalls benötigte Zahl der Nutzer für die Wirksamkeit von App-basiertem Proximity-Tracking ist datenschutzrechtlich von Bedeutung. Die Bearbeitung von Personendaten muss grundsätzlich verhältnismässig sein (Art. 4 Abs. 2 DSG für die Schweiz).

Wenn die SwissCovid-App ihren Zweck tatsächlich nur erfüllen könnte, wenn sie von 60 Prozent der Bevölkerung genutzt würde, wäre die damit verbundene – wenn auch marginale – Bearbeitung von Personendaten grundsätzlich unverhältnismässig.

Die häufig genannte Zahl von 60 Prozent ist aber wie erwähnt irreführend. Gleichzeitig ist der Zweck der Bearbeitung von Daten im Rahmen der SwissCovid-App nicht, dass allein damit die COVID-19-Pandemie in der Schweiz gestoppt werden kann, wie ein Blick in das Epidemiengesetz (EpG) zeigt:

Die Nutzung der SwissCovid-App durch 60 Prozent der Bevölkerung wäre in der Schweiz übrigens voraussichtlich gar nicht erreichbar. Selbst wenn alle Menschen in der Schweiz, die über ein halbwegs aktuelles und damit kompatibles Smartphone verfügen, die App installieren würden, läge die Zahl der Nutzer bei weniger als 60 Prozent der Bevölkerung.

In Bezug auf die Verhältnismässigkeit ist ausserdem zu beachten, dass die Rechtsprechung in der Schweiz bei der Bearbeitung von Personendaten durch Behörden erheblich auf den Gesetzgeber abstellt. Ein Beispiel dafür lieferte das Bundesgericht mit seinem Urteil 1C_598/2016 zur Vorratsdatenspeicherung, wo es bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit im Wesentlichen argumentierte, das schweizerische Parlament habe sich ausdrücklich für eine anlasslose und umfassende Überwachung ausgesprochen.

Die SwissCovid-App basiert auf einem ausdrücklichen parlamentarischen Entscheid. Dieser Entscheid ist umso bedeutsamer, weil das Proximity-Tracking im Gegensatz zur Vorratsdatenspeicherung zu einem geradezu vernachlässigbaren Eingriff in die Rechte der – freiwilligen! – App-Nutzer führt.

Wieso ist der 60 Prozent-Irrtum gefährlich?

Die hartnäckige Nennung der irreführenden Zahl von 60 Prozent – in den Massenmedien, aber teilweise auch durch Fachpersonen im Datenschutzrecht – gefährdet den Erfolg der SwissCovid-App:

Wenn angenommen wird, die Zahl von 60 Prozent müsse erreicht oder überschritten werden, damit App-basiertes Proximity-Tracking funktioniert, wird ein Ziel gesetzt, dass voraussichtlich gar nicht erreicht werden kann (und auch nicht erreicht werden muss). Die SwissCovid-App wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt, selbst wenn sie mit einer weniger breiten Nutzung erfolgreich genug sein könnte.

Ob App-basiertes Proximity-Tracking tatsächlich funktioniert, muss sich in der Schweiz erst noch zeigen. Momentan ist zu befürchten, dass die SwissCovid-App an schlafenden Behörden und ungenügendem Testing scheitern könnte, weil die erforderlichen Prozesse nicht funktionieren.

Immerhin: In Deutschland konnten dank der dortigen Corona-Warn-App bereits erste Nutzer alarmiert werden.

Da jede einzelne Person, die sich mit dem Coronavirus ansteckt, den Grundstein für eine riesige Zahl von Menschen, die an COVID-19 erkranken oder gar sterben, legen kann, zählt letztlich jede einzelne verhinderte weitere Ansteckung. Davon profitieren Gesellschaft und Wirtschaft weltweit.

Jenseits von Covidioten und Datenschutz-Fundametalisten kann in der Schweiz niemand am Scheitern der SwissCovid-App interessiert sein.

Siehe auch:

4 Kommentare

    1. @Maja Gossweiler:

      Die Nutzung der SwissCovid-App ist freiwillig. Ich empfehle, das Exposure-Tracking dauerhaft aktiviert zu lassen. Ansonsten vergisst man, die App einzuschalten, wenn man aus dem Haus geht sowie verpasst allenfalls eine Alarmierung.

    1. Marc Schmid:

      Wie machen Sie die Unterscheidung?

      Meine Unterscheidung: Apps wie die SwissCovid-App dienen dem Exposure- oder Proximity-Tracking. Die Behörden hingegen betreiben – aufgrund von bekannten COVID-19-Fällen – Contact-Tracing.

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