Urteil: Gerichtsverhandlung per Zoom-Video-Konferenz scheitert an fehlender gesetzlicher Grundlage

Symbolbild: Video-Konferenzen während der COVID-19-Pandemie

Mit Urteil 4A_180/2020 entschied das Bundesgericht am 6. Juli 2020, das Hauptverhandlungen am Gericht gegen den Willen einer beteiligten Partei nicht per Video-Konferenz durchgeführt werden dürfen.

Die Urteilsbegründung ist einfach und klar:

«De lege lata ist das Mittel der Videokonferenz in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen. Das Vorgehen […] entbehrt mithin der gesetzlichen Grundlage.»

Die geltende Zivilprozessordnung (ZPO) sieht demnach nicht vor, dass ein Gericht anordnen kann, dass eine Hauptverhandlung per Video-Konferenz durchgeführt wird. Es fehlt damit an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage.

Das Urteil geht auf eine Hauptverhandlung am Handelsgericht des Kantons Zürich zurück, die am 7. April 2020 gegen den Willen der Beklagten durchgeführt wurde. Das Handelsgericht verwendete den beliebten Video-Konferenz-Dienst Zoom.

Die Anwälte der Beklagten hatten erklärt, mit der Durchführung per Video-Konferenz nicht einverstanden zu sein. Die Beklagte blieb der Hauptverhandlung unentschuldigt fern. Die Klage wurde mit Urteil HG180093-O vom 7. April 2020 vollumfänglich gutgeheissen. Dagegen gelangte die Beklagte mit Beschwerde an das Bundesgericht.

Keine Rolle spielte für das Urteil die COVID-19-Verordnung über Justiz und Verfahrensrecht vom 16. April 2020:

Sie erlaubt in Art. 2 ff. unter bestimmten Voraussetzungen die Durchführung von Verhandlungen per Video-Konferenz. Die Verordnung trat aber erst am 20. April 2020 – nach der strittigen Hauptverhandlung per Video-Konferenz – in Kraft.

Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Grundlage hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut und hob das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich auf:

«Die Sache wird zur Durchführung des Verfahrens im Sinne der Erwägungen und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.»

Was bedeutet das Urteil für die Digitalisierung der Justiz?

Aufgrund der einfachen und klaren Begründung darf das Urteil nicht überbewertet werden. Es gehört zum anwaltlichen Handwerk, fehlende Rechtsgrundlagen von gerichtlichen Handlungen zum Vorteil der eigenen Mandantschaft anzugreifen.

Dennoch steht das Urteil exemplarisch für die weitgehend fehlende Digitalisierung der Justiz in der Schweiz:

Lediglich gewisse Eingaben können mit dem «elektronischen Rechtsverkehr» ohne Verwendung von Papier und Post erfolgen. Die Eingaben müssen per E-Mail über «Zustellplattformen» erfolgen. Die Datenmenge ist auf 10 bis 15 MB beschränkt. Ansonsten finden die Verfahren mehrheitlich auf dem Schriftweg und gelegentlich mit persönlicher Anwesenheit vor Ort bei Gericht statt.

Der «digitale Wandel in der Schweizer Justiz» soll unter der Bezeichnung Justitia 4.0 bis 2026 erfolgen.

Allerdings bedeutet auch dieses Projekt, dessen Zustandekommen per 2026 äussert fraglich ist, lediglich, dass die Aktenführung und der Rechtsverkehr elektronisch erfolgen sollen. Zur Vision von Justitia 4.0 zählt nicht, dass an Zivilprozessen alle Beteiligten «remote» – aus dem Homeoffice oder letztlich von irgendwo im Universum, wo die Internet-Verbindung schnell genug ist – teilnehmen können.

Immerhin schlägt der Bundesrat im Rahmen der laufenden Revision der ZPO – so das Bundesgericht – bereits vor, für gewisse Handlungen in Verfahren per Video-Konferenz zu ermöglichen:

«Der Bundesrat regt im Rahmen seines Entwurfs vom 26. Februar 2020 betreffend die Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) an, die Einvernahmen von Zeugen, die Erstattung von Gutachten sowie die Parteibefragungen und Beweisaussagen ‹neu› mittels Videokonferenz möglich zu machen […]. Er sieht angesichts der ‹stetig zunehmenden technischen Möglichkeiten und ihrer Verbreitung sowie der parallel zunehmenden Internationalität fast sämtlicher Lebensbereiche und damit auch der an einem Zivilverfahren beteiligten Personen› Bedarf für eine solche Regelung. Ein spezifisches Bedürfnis dafür bestehe insbesondere im Zusammenhang mit den laufenden Bestrebungen zur Positionierung der Schweiz als internationaler Justizplatz […].»

Das Bundesgericht deponiert vorsorglich seine Bedenken:

«Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Form einer Videokonferenz wirft verschiedene rechtliche und praktische Fragen auf; dies jedenfalls dann, wenn alle Verfahrensbeteiligten – wie vorliegend – ‹von ihrem jeweiligen Standort aus über ihre Mobiltelefone› teilnehmen sollen. So fragt sich, wie die Öffentlichkeit des Verfahrens (Art. 54 ZPO) sichergestellt wird und wie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gewahrt werden können. Es sind datenschutz- und datensicherheitsrechtliche Vorgaben zu beachten. Ferner werden sich säumnisrechtliche Fragen stellen, wenn die Videokonferenz nicht zustande kommt oder die technische Verbindung abbricht (oder – was davon nicht immer unterscheidbar sein dürfte – von einem Teilnehmer absichtlich abgebrochen wird; vgl. Art. 234 ZPO). Hält sich eine Partei im Ausland auf, sind rechtshilferechtliche Bestimmungen einzuhalten. Auch ist diskutiert worden, wie sich die Durchführung einer Verhandlung mittels Videokonferenz zum Anspruch der Parteien auf gleiche und gerechte Behandlung (vgl. Art. 29 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK [droit à un procès équitable]) und zum ‹Unmittelbarkeitsprinzip› verhält […].»

Ein Teil der Bedenken ist offensichtlich nicht unbegründet. So stellt sich die Ausland-Thematik nur, wenn sich nicht alle Parteien in der Schweiz befinden oder sich in der Schweiz vertreten lassen. Die Gerichtsöffentlichkeit kann mit digitalen Mitteln tatsächlich geschaffen werden und ist – anders als im Gerichtssaal – nicht weitgehend eine Fiktion. Smartphones sind eine naheliegende und – relativ gesehen – meist sichere Lösung, doch ist es mit allen gängigen Video-Konferenz-Diensten möglich, auch herkömmliche Computer zu nutzen.

Die geäusserten Bedenken zeigen, wie in der Schweiz viele Richter, aber auch Anwälte und sonstige an der Justiz beteiligte Personen die Digitalisierung in erster Linie als Gefahr sehen.

Insofern ist zu befürchten, dass das Urteil den digitalen Rückstand der schweizerischen Justiz zementiert. Richtig wäre, das Urteil als Signal zu verstehen, dass Hauptverhandlungen per Video-Konferenz auch über die COVID-19-Pandemie hinaus ermöglicht werden sollen. Gerichte und Parteien sollten Verhandlungen per Video-Konferenz nur begründet ablehnen können.

Siehe auch:

Bild: Pexels / Anna Shvets, Symbolbild für Video-Konferenzen während der COVID-19-Pandemie, Pexels-Lizenz.

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