Tages-Anzeiger & Co.: Ist die Unschulds­vermutung nicht länger eine Floskel?

Foto: Galgen

Die «Floskel ‹Es gilt die Unschuldsvermutung› [wird] durch eine […] praktizierte Unschuldsvermutung zunehmend unnötig». Diese Feststellung findet sich im «Qualitätsreport 2021» der Publikationen der TX Group.

Wenn die Feststellung von Res Strehle, Tages-Anzeiger-Chefredaktor bis 2015, stimmt, dann wäre sie erfreulich.

Die floskelhafte Unschuldsvermutung ist eine journalistische Unsitte:

«Wir alle kennen es: Da wird ausführlichst über ein Delikt berichtet und über einen Menschen, der verdächtig wird, es begangen zu haben. […] Immer enden solche Berichte mit der obligaten Feststellung, natürlich gelte die Unschuldsvermutung. Die Tatsache aber, dass dies gesagt wird, belegt gerade das Gegenteil. Nichts, was sich versteht, muss ausdrücklich gesagt werden. Vor Gericht etwa, wird diese Aussage kaum je zu hören sein. Genau so gut, könnten mediale Berichte auch schliessen mit dem Hinweis, selbstverständlich gelte die Rechtstaatlichkeit weiterhin.»

Und:

«Je notwendiger der Hinweis auf die Unschuldsvermutung, desto sicherer, dass die Berichterstattung ebendiese Vermutung verletzt.»

(Marcel Niggli: Im Übrigen gilt die Unschulds­vermutung, 2018)

Beim «Vincenz»-Strafprozess im ersten Halbjahr 2022 erlitten die Publikationen der Tamedia Publikationen Deutschschweiz AG demnach einen heftigen Rückfall.

In der aufwendig gestalteten «Raiffeisen-Kartei» beispielsweise war unter anderem Folgendes zu lesen:

«Die Angeklagten

Sieben Personen müssen sich vor dem Richter verantworten. Sie werden von der Staatsanwaltschaft beschuldigt, in unterschiedlicher Form von den umstrittenen Geschäften profitiert zu haben. Für alle gilt die Unschuldsvermutung.»

Gemäss Strafprozessordnung wird die Unschuld bei beschuldigten Personen übrigens nicht bloss vermutet, sondern «jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.» (Art. 10 Abs. 1 StPO)

Bild: Pixabay / Servicelinket, Public Domain-ähnlich.

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