Interpellation Gysin (22.3086): Genügt der Opferschutz in Verfahren und durch die Medien?

Foto: Verzweifelte PersonWie kann verhindert werden, dass Opfer von Straftaten gegen die geistige, körperliche und sexuelle Integrität in Verfahren und durch die Medien ein zweites Mal zu Opfern werden?

Nationalrätin Greta Gysin (Grüne) reichte in diesem Zusammenhang ihre ausführliche Interpellation 22.3086 unter dem Titel «Verhindern der sekundären Viktimisierung in den Medien und in den Gerichtsverhandlungen» ein.

Begründung: Schutz vor medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Stigmatisierung

Gysin begründete ihre Interpellation wie folgt:

«In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt und der Verletzung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität muss unbedingt eine sekundäre Viktimisierung verhindert werden.

Die emotionale und psychologische Dimension von erlebter Gewalt darf unabhängig vom Alter und vom Rechtsstatus der betroffenen Person in keiner Phase eines Straf- oder Zivilverfahrens unterschätzt werden. Diese Achtsamkeit muss sowohl im Rahmen des Justizverfahrens als auch nach aussen hin gelten.

«Nach aussen hin müssen die Opfer besser vor der medialen Aufmerksamkeit und vor öffentlicher Stigmatisierung geschützt werden.»

Nationalrätin Greta Gysin

Und:

Während eines Verfahrens muss der Schutz der Intimsphäre der Opfer stets Vorrang haben, auch beim Zugang der Medien zu den Gerichtsverfahren. Dieses Ziel lag bereits dem früheren Opferhilfegesetz von 1993 zugrunde und wurde auf internationaler Ebene durch die Empfehlung des Europarats von 2006 […] sowie durch die Istanbul-Konvention bekräftigt, in der ausdrücklich spezifische Ausbildungen und Massnahmen zur Verhinderung der sekundärer Viktimisierung gefordert werden.

Nach aussen hin müssen die Opfer besser vor der medialen Aufmerksamkeit und vor öffentlicher Stigmatisierung geschützt werden.

Die intimen und demütigenden Details in der Berichterstattung über ein Verfahren sind für alle Beteiligten verletzend; sie werden unkontrolliert von den Medien verbreitet und in den sozialen Medien kommentiert. Hinzu kommt, dass die Suchmaschinen immer besser werden und so immer häufiger und schneller nicht nur die Beschuldigten oder Verurteilten, sondern auch die Opfer identifiziert werden, und zwar unabhängig von der Veröffentlichung der Namen, was noch Jahre später schwerwiegende Folgen haben kann.

«Es gibt Opfer, die wegen der Stigmatisierung und der Demütigung, der sie im Rahmen eines Gerichtsverfahrens und ausserhalb des Verfahrens ausgesetzt sind, auf ein Strafverfahren verzichten.»

Nationalrätin Greta Gysin

Und auch:

Es gibt Opfer, die wegen der Stigmatisierung und der Demütigung, der sie im Rahmen eines Gerichtsverfahrens und ausserhalb des Verfahrens ausgesetzt sind, auf ein Strafverfahren verzichten. Und die meisten erstatten nicht einmal Anzeige: Gemäss der Studie 2019 des GfS Bern haben 22 Prozent der Frauen in der Schweiz sexuelle Übergriffe erlebt, aber nur 18 Prozent der Opfer haben eine Meldung an die Polizei gemacht. Mehr als zwei Drittel der Opfer nennen als Gründe Scham und die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, was durch die Medienberichterstattung noch verstärkt wird; dies wiederum kann als wichtiger mildernder Faktor zugunsten der verurteilten Täterinnen und Täter angesehen werden. Dies verstärkt das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Erniedrigung für die Opfer noch weiter.

Fast 90 Prozent der Missbrauchsfälle sowie der Täterinnen und Täter werden denn auch nicht gemeldet.

Es ist wichtig, sich mit diesem Thema zu befassen, um die Opfer besser zu schützen und weitere Fälle von Opfern zu verhindern.»

Bundesrätliche Stellungnahme: OHG, StPO, ZPO, …

Nun hat der Bundesrat seine Stellungnahme zur Interpellation veröffentlicht, das heisst, auf die Fragen von Gysin geantwortet.

Fragen 1 und 7: Ausreichender Schutz vor Einmischung der Medien?

«Sind die Massnahmen zum Schutz von Opfern und Beteiligten in Zivil- und Strafverfahren wegen Straftaten, die die körperliche, geistige und sexuelle Integrität betreffen, in jeder Phase des Verfahrens (Ermittlungen und Gerichtsverfahren) vor der Einmischung der Medien ausreichend

Und:

«Fördert der Bundesrat angesichts der Machtlosigkeit des Presserats gegenüber der Eigendynamik des Medienechos, insbesondere in den Online-Medien, wirksamere Formen der Medienselbstregulierung, wie sie Artikel 17 der Istanbul-Konvention fordert?»

Antwort:

Die Strafprozessordnung (SR 312.0; StPO) wie auch die Zivilprozessordnung (SR 272; ZPO) erlauben, die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ganz oder teilweise auszuschliessen, wenn schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person – insbesondere des Opfers – dies erfordern (Art. 70 Abs. 1 Bst. a StPO; Art. 54 Abs. 3 ZPO).

Das strafrechtliche Vorverfahren ist grundsätzlich nicht öffentlich (Art. 69 Abs. 3 Bst. a StPO). Ausserhalb öffentlicher Gerichtsverhandlungen ist eine Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Verfahren nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, gerade aber auch zur Richtigstellung unzutreffender Meldungen oder Gerüchte (Art. 74 Abs. 1 Bst. c StPO). Informationen, die die Identifizierung des Opfers ermöglichen, dürfen sowohl Behörden als auch Private (und somit auch Medienschaffende) nur veröffentlichen, wenn dies zur Aufklärung eines Verbrechens oder aus Fahndungszwecken notwendig ist, oder wenn das Opfer zustimmt (Art. 74 Abs. 4 StPO).

Betroffene können sich gegen die Gerichtsberichterstattung wehren, wenn diese ihre Persönlichkeitsrechte verletzt oder gegen den Datenschutz verstösst. Die Instrumente des vorsorglichen Rechtsschutzes ermöglichen es, einen geplanten Medienbeitrag unter bestimmten Voraussetzungen noch vor dessen Publikation verbieten zu lassen (Art. 261 ff. und Art. 266 ZPO). Nach einer widerrechtlichen Publikation haben Betroffene insbesondere das Recht, im entsprechenden Medium die eigene Sicht der Tatsachen darzulegen (Recht auf Gegendarstellung, Art. 28g-l des Zivilgesetzbuches [SR 210; ZGB]) und gegebenenfalls Genugtuung zu verlangen (Art. 28a Abs. 3 ZGB i.V.m. Art. 49 des Obligationenrechts, SR 220; OR).

Der Schweizer Presserat wacht über die Einhaltung des sogenannten Journalistenkodex (‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten›), was Artikel 17 der Istanbul-Konvention (SR 0.311.35) entspricht.»

Frage 2: Genügender Schutz von vertraulichen Dokumenten?

«Genügen die Massnahmen, mit denen verhindert wird, dass vertrauliche Dokumente, die zahlreiche Details enthalten, in Umlauf geraten, die nicht von öffentlichem Interesse sind, sondern vielmehr allen Beteiligten, Opfern und Angeklagten schaden können?»

Antwort:

«Aus dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit lässt sich kein Recht auf Einsicht in die Akten von Straf- oder Zivilverfahren ableiten. Nicht als Partei am Verfahren beteiligte Personen, etwa Medienschaffende, können die Akten hängiger Verfahren nur einsehen, wenn sie dafür ein schützenswertes Interesse haben und der Einsichtnahme keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen (Art. 101 Abs. 3 StPO, BGE 134 I 286, E. 5 und 6). Den Entscheid darüber trifft die Verfahrensleitung bzw. das Gericht. Dabei werden auch die erforderlichen Massnahmen angeordnet bzw. getroffen, um Missbräuche zu verhindern und berechtigte Geheimhaltungsinteressen (beispielsweise des Opfers) zu schützen (Art. 102 Abs. 1 StPO)

Fragen 3 und 4: Massnahmen gegen Verbreitung sensibler Dokumente und Informationen?

«Gibt es rechtliche Beschränkungen, die Medienvertreterinnen und -vertreter, die in den Besitz sensibler Dokumente und Informationen gelangen, daran hindern, diese weiterzuverbreiten, auch ausserhalb ihrer spezifischen Rolle im Rahmen des Gesetzes?»

Und:

«Welche Massnahmen hat der Bundesrat ergriffen, um die Verbreitung von Namen und intimen Details über soziale Medien zu verhindern, einzudämmen und zu sanktionieren?»

Antwort:

«Im Zuge des Bedeutungszuwachses des Internets besteht ein grösseres Potential zur raschen Verbreitung sensibler Daten und noch nicht gerichtlich abgeklärter Tatsachen durch Medienschaffende oder Dritte. Bei einer Verbreitung über moderne Kommunikationsmittel greifen – je nach konkretem Sachverhalt – verschiedene Straftatbestände, beispielsweise jene gegen Verletzungen der Ehre und des Geheim- oder Privatbereichs (Art. 173 ff. StGB), oder die zivilrechtlichen Bestimmungen zur Persönlichkeitsverletzung (Art. 28 ff. ZGB). Zielt das Verhalten auf eine Blossstellung der betroffenen Person, kann es sich um Cybermobbing handeln.

Der Bundesrat befasst sich gegenwärtig im Rahmen des Postulats der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates 21.3969 ‹Ergänzungen betreffend Cybermobbing im Strafgesetzbuch› vom 25. Juni 2021 mit dieser Thematik. Auch im Rahmen des erzieherischen Jugendmedienschutzes wird das Phänomen beleuchtet (www.jugendundmedien.ch)

Frage 5: Spezielle Schulung für Gerichtsberichterstatter?

«Sollten Personen, die zur Berichterstattung über ein Verfahren zu einer Gerichtsverhandlung zugelassen werden, nicht vorgängig eine spezielle Schulung zum Thema sekundäre Viktimisierung absolvieren?»

Antwort:

«Bund und Kantone regeln die Zulassung sowie die Rechte und Pflichten der Personen, welche Gerichtsberichterstattung betreiben (Art. 72 StPO). Sie können dabei eine bestimmte Ausbildung verlangen.»

Frage 6: Sensibilisierung von Richterinnen und Staatsanwälten?

«Werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten im Rahmen der Ausbildung schwerpunktmässig darauf sensibilisiert, welche Auswirkungen die Art und Weise, wie Urteile begründet und eröffnet werden, haben können, so dass Geschlechterstereotypen, Werturteile und Stigmatisierung unabhängig vom Inhalt des Urteils vermieden werden?»

Antwort:

«Die Ausbildung des Personals von Staatsanwaltschaften und Gerichten fällt grundsätzlich in die Zuständigkeit der Kantone. Diese haben auf dem Gebiet der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegen Frauen unterschiedliche Weiterbildungen institutionalisiert.

Der Bund seinerseits gewährt unter bestimmten Voraussetzungen Finanzhilfen gestützt auf die Gesetzgebung zur Opferhilfe (Art. 31 OHG) oder die Verordnung gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (SR 311.039.7). Die Weiterbildung des Personals gehört zudem zu den prioritären Handlungsfeldern der Roadmap gegen häusliche Gewalt, welche anlässlich des eingangs erwähnten strategischen Dialogs unterzeichnet worden ist.

Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für die Umsetzung der Istanbul-Konvention, welcher derzeit in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Gemeinden und unter Einbezug der Nichtregierungsorganisationen in Erarbeitung ist, werden u.a. verschiedene weitere Massnahmen zur Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen geprüft. Die Verabschiedung dieses Nationalen Aktionsplans durch den Bundesrat ist für Juni 2022 vorgesehen.»

Siehe auch: Postulat Gysin (21.4531): Transparenz über schweizerische Hassrede auf Social Media (Steiger Legal)

Bild: Pixabay / Anemone123, Public Domain-ähnlich.

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