Jugendschutz: Kommen Ausweiskontrollen bei Netflix, TikTok und YouTube?

Foto: Schweizer PassIn der Schweiz soll ein Ausweiszwang im Internet eingeführt werden. Ein neues Gesetz, das Jugendschutz bei Film und Videospielen verspricht, bringt unter anderem Ausweiskontrollen für jede Nutzung von Instagram, Netflix, TikTok, YouTube und anderen Plattformen.

Ein Referendumskomitee sammelt Unterschriften, um eine Volksabstimmung über das neue Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele (JSFVG) zu erzwingen.

Die renommierte Tech-Journalistin Adrienne Fichter schreibt von einem der «Internet-feindlichsten Gesetze Europas».

Die Operation Libero erklärt zum Jugendschutz, «warum man online nicht einfach übernehmen kann, was offline funktioniert».

Die benötigten 50’000 Unterschriften müssen bis am 19. Januar 2023 gesammelt werden. Das Referendumskomitee hat die wichtigsten Argumente gegen das Gesetz zusammengefasst.

(Die Unterschriftenbögen, die online erstellt werden, sind an die zuständige Gemeinde adressiert. So besteht eine Chance, dass die Unterschriften rechtzeitig beglaubigt werden können.)

Das neue Gesetz enthält zahlreiche Regelungen zum Jugendschutz, unter anderem obligatorische Alterskontrollen vor der ersten Nutzung von Online-Plattformen mit Filmen beziehungsweise Videos.

Im Klartext: Wenn das Gesetz in Kraft tritt, könnten Video-Plattformen wie Instagram, TikTok, Twitch und YouTube nur noch nach einer Alterskontrolle genutzt werden. Plattform-Betreiberinnen wie Google und Meta müssten sich von den Nutzerinnen und Nutzer einen Ausweis zeigen lassen.

In Episode 80 der «Datenschutz Plaudereien» diskutierten Andreas Von Gunten und ich den geplanten Ausweiszwang im Internet.

Ausweiszwang im Internet: Was steht im Gesetz?

Der einschlägige Art. 20 Abs. 1 JSFVG lautet wie folgt:

«Die Anbieterinnen von Plattformdiensten müssen geeignete Massnahmen treffen, damit Minderjährige vor für sie ungeeigneten Inhalten geschützt werden.»

«Plattformdienst» definiert Art. 5 lit. e JSFVG wie folgt:

«Dienst oder abtrennbarer Teil eines Dienstes, dessen Hauptzweck darin besteht, der Allgemeinheit eine elektronische Plattform bereitzustellen, auf die die Nutzerinnen und Nutzer selbst Filme oder Videospiele hochladen und von der sie diese abrufen können, wobei die Anbieterin des Plattformdienstes die Organisation der nutzergenerierten Inhalte bestimmt, aber keine redaktionelle Verantwortung für diese Inhalte trägt.»

«Plattformdienst» meint demnach Plattformen für Nutzer-generierte Inhalte, sofern und soweit es sich um Filme oder Videospiele handelt.

Plattformen werden unabhängig von ihrer Grösse oder Nutzerzahl reguliert, sofern sie eine «wirtschaftliche Tätigkeit» entfalten (Art. 2 Abs. 1 lit. b JSFVG). Kleinst-Plattformen und Startups sind genauso betroffen wie Tech-Giganten. Was eine wirtschaftliche Tätigkeit bedeuten soll, steht nicht im Gesetz.

Was für Inhalte für Minderjährige ungeeignet sind, steht ebenfalls nicht im Gesetz. Hingegen hält das Gesetz in Art. 20 Abs. 2 lit. a fest, dass insbesondere folgende «geeignete Massnahme» umgesetzt werden muss:

«Einrichtung und […] Betrieb eines Systems zur Alterskontrolle vor der erstmaligen Nutzung des Dienstes.»

Für den Jugendschutz wäre naheliegend, dass eine Alterskontrolle erst stattfindet, wenn auf problematische Inhalte zugegriffen werden soll. Eine Alterskontrolle für alle Inhalte ist offensichtlich unverhältnismässig.

Das Gesetz sieht für alle Inhalte und jede Nutzung von Online-Plattformen mit Filmen beziehungsweise Videos eine Alterskontrolle vor – und zwar vor der ersten Nutzung.

Um nicht ständig das Alter der Nutzer erneut überprüfen zu müssen, werden die Plattformen nicht nur einen Ausweiszwang, sondern auch einen Klarnamen- und Registrierungszwang einführen müssen. Nur so ist bekannt, wessen Alter schon geprüft wurde.

Amerikanische Internet-Konzerne: Amtliche Daten aus der Schweiz frei Haus

Gemäss Botschaft zum Gesetz ist klar, dass die Alterskontrolle mit einer Ausweiskontrolle erfolgen soll:

«Das geforderte System ist dabei nicht ausschliesslich technisch zu verstehen, sondern kann zum Beispiel auch über die Einforderung einer Kopie des Personalausweises der Nutzerin oder des Nutzers bei der Kontoeröffnung geschehen.»

Noch weiter geht das Gesetz für sogenannte Abrufdienste wie Netflix, wo die Inhalte von den Plattform-Betreiberinnen selbst angeboten werden (Art. 5 lit. d JSFVG). Dafür sind nicht nur Alterskontrollen vorgesehen, sondern auch die «Bereitstellung eines Systems zur elterlichen Kontrolle» (Art. 8 Abs. 1 u. 2 JSFVG).

Das Gesetz kann gegenüber ausländischen Internet-Konzernen wie Google, Meta, Netflix oder TikTok nicht durchgesetzt werden. Die Konzerne erhalten aber in Form von Nutzerdaten einen Anreiz, das Gesetz einzuhalten:

Gemäss Art. 8 Abs. 3 u. Art. 20 Abs. 3 JSFVG dürfen Daten von Minderjährigen, die im Rahmen von Alterskontrollen erhoben werden, ausschliesslich für die Alterskontrolle verwendet werden.

Im Umkehrschluss bedeuten diese Bestimmungen, dass die Daten von Erwachsenen aus den Alterskontrollen für andere Zwecke verwendet werden dürfen.

Die Daten sind besonders wertvoll, denn es handelt sich um amtliche Ausweisdaten. Ferner wird damit eine anonyme Nutzung der Plattformen verunmöglicht.

Amerikanische und chinesische Plattformen erhalten insbesondere folgende Angaben zur Verwendung im eigenen Ermessen:

  • Vorname(n) und Name
  • Nationalität
  • Geburtsdatum
  • Geschlecht
  • Körpergrösse
  • Heimatort
  • Porträtfoto

Der Datenschutz in der Schweiz, der mit dem neuen Datenschutzgesetz per 1. September 2023 eigentlich verschärft werden sollte, wird damit ausgehöhlt. Die politisch häufig kritisierten Tech-Konzerne erhalten amtlich verifizierte Daten frei Haus.

Bei Plattformen und Websites im Ausland, welche das Gesetz nicht umsetzen möchten, wird sich beim – normalerweise fehlenden – Jugendschutz nichts ändern.

Ausweiskontrollen im Internet: Kein Thema in den Medien, unter dem Radar im Parlament

In der Schweizerischen Bundesversammlung war das Gesetz weitgehend unbestritten:

Im Ständerat erfolgte die Annahme mit 40:3 Stimmen, im Nationalrat mit 131:56 Stimmen. Im Wesentlichen stimmten Parlamentarier der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen das Gesetz.

Zu den Befürwortern zählten bekannte Digital-Politiker wie Ruedi Noser im Ständerat sowie Jaqueline Badran, Judith Bellaiche, Beat Flach, Balthasar Glättli, Philipp Kutter und Jörg Mäder im Nationalrat.

Die Erklärungen dieser Politikerinnen fallen auf den ersten Blick dürftig aus. Eine Nationalrätin, welche die Interessen der ICT- und Internet-Branche vertritt, erklärte sich bei Twitter beispielsweise wie folgt:

«Wir sind nie davon ausgegangen, dass die Altersverifikation mittels Passkopie erfolgen soll. Alkoholverkäufe online erfolgen bspw. durch blosse Bestätigung der Konsumenten. Gegen eine entsprechende Verordnung müssten wir uns vehement wehren.»

Aus dieser Aussage kann man schliessen, dass die Nationalrätin die Botschaft zum Gesetz nicht (richtig) gelesen hatte. Man stimmte anscheinend für das Gesetz, weil man davon ausging, es ginge um Pseudo-Jugendschutz wie beim Online-Alkoholverkauft. (Offline gilt: «Ohne Ausweis kein Alkohol!»).

Eine naheliegende Erklärung ist, dass Parlamentarier mit der endlosen und wachsenden Flut von Vorlagen überfordert sind – sogar bei Themen, auf die sie sich spezialisiert haben. Das Gleiche gilt für die Netzpolitik und die übrige Zivilgesellschaft in der Schweiz, welche das brisante neue Gesetz ebenfalls (zu) spät entdeckt haben, weshalb gegenüber Parlamentariern kein Lobbying erfolgte.

Im Parlament spielte möglicherweise eine Rolle, dass das neue Gesetz nicht für die traditionellen Medien, nicht für die SRG und sonstige öffentlich-rechtliche Medien und nicht für Werbung gilt (Art. 2 f. JSFVG). Mit diesen Ausnahmen wurde Widerstand aus Branchen mit einem traditionell starken Lobbying verhindert. Parlamentarier sind häufig auf Lobbyisten angewiesen, welche sie auf problematische Stellen in neuen Gesetzen hinweisen.

In den traditionellen Medien wurde das neue Gesetz und dessen Folgen bislang kaum thematisiert. Wenn die angebliche «vierte Gewalt» über die neue Regulierung berichtete, dann meist mit dem falschen Framing einer «Pornosperre». Dabei ist das neue Gesetz gerade deshalb problematisch, weil Alterskontrollen für alle Inhalte gelten und nicht allein für tatsächlich problematische Inhalte wie Pornografie.

Mit einer künftigen schweizerischen E-ID könnte die Alterskontrolle auf den Status «volljährig» beschränkt werden. Es müsste kein vollständiger (digitaler) Ausweis gezeigt werden.

Aus heutiger Sicht muss das E-ID-Gesetz aber noch nachgebessert werden und Alterskontrollen für alle Inhalte wären auch mittels E-ID unverhältnismässig.


Nachtrag vom 23. Januar 2023: Die Bundeskanzlei bestätigt, was bereits die Piratenpartei mitgeteilt hatte:

«Das Referendum gegen das Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospielen (JSFVG) hat das verfassungsmässige Quorum von 50’000 Unterschriften um mehr als die Hälfte verfehlt.»

Bild: Wikimedia Commons / SDE, Public Domain.

2 Kommentare

  1. Erschreckend wie ein solches Gesetz, mit einer solchen Tragweite, einfach durchgewunken wurde – Ohne dass sich die Damen und Herren genau mit den technischen oder auch organisatorischen Knackpunkten auseinander gesetzt haben.

    Ich persönliche freue mich schon auf die Leaks der Daten von Ruedi Noser, Jaqueline Badran, Judith Bellaiche, Beat Flach, Balthasar Glättli, Philipp Kutter sowie Jörg Mäder und die spannenden Informationen darüber, wo sich die Damen und Herren im Internet so bewegen…

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