Identitätsmissbrauch: Politische Provokation rückt neuen Straftatbestand ins Rampenlicht

Bild: Deepfake (Symbolbild, AI-generiert)

In der Schweiz steht Identitätsmissbrauch seit dem 1. September 2023 ausdrücklich unter Strafe.

Andreas Glarner, Nationalrat der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP), verschafft mit einem Deepfake-Video seiner grünen Ratskollegin Sibel Arslan dem neuen Straftatbestand viel Aufmerksamkeit.

Den Sachverhalt beschreiben die Basler «OnlineReports»:

«Wie einfach Künstliche Intelligenz zur Verbreitung von Fälschungen missbraucht werden kann, demonstriert derzeit SVP-Nationalrat Andreas Glarner am Beispiel seiner grünen Amtskollegin Sibel Arslan.

Auf X (vormals: Twitter) platzierte der Aargauer Rechtsaussen heute ein 15-Sekunden-Videostatement, in dem die kurdischstämmige Basler Basta-Politikerin angeblich den Willen bekräftigt, ‹dass alle kriminellen Türken ausgeschafft werden›. Das Video fährt aus täuschend gut synchronisiertem Mund und der vermeintlichen Stimme der Linken mit der Bitte fort, die SVP-Liste einzuwerfen und zweimal Glarner zu wählen.

Nur: Das angebliche Arslan-Statement ist eine Fälschung. Das wird aber erst auf den zweiten Blick erkennbar: Unten links ist der Vermerk ‹Mit KI erstellt› zu lesen. Über dem Filmchen steht die fette Zeile ‹Wenn Sibel Arslan ehrlich wäre›.»

Die neue politische Provokation von Andreas Glarner ist nicht nur ein Tiefpunkt im aktuellen Wahlkampf, sondern hat – einmal mehr – eine rechtliche Dimension.

Es scheint klar, dass das Deepfake-Video Sibel Arslan in ihrer Persönlichkeit verletzt. Arslan könnte in diesem Fall gegen Andreas Glarner und Mitwirkende, zum Beispiel auch die Betreiber von Social-Media-Plattformen, gemäss Art. 28 Abs. 1 i.V.m. Art. 28a ZGB wegen Persönlichkeitsverletzung klagen. Möglich wäre auch ein Begehren um superprovisorische vorsorgliche Massnahmen wie beispielsweise die Löschung des Videos oder das Verbot der Verbreitung.

Strafbarer Identitätsmissbrauch durch Andreas Glarner?

Gleichzeitig könnte der neue Art. 179decies StGB anwendbar sein, der Identitätsmissbrauch unter Strafe stellt.

«Wer die Identität einer anderen Person ohne deren Einwilligung verwendet, um dieser zu schaden oder um sich oder einem Dritten einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen, wird auf Antrag mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft.»

Der Straftatbestand ist «in verschiedener Hinsicht überraschend offen formuliert». Als Nachteil «kann es bereits ausreichen, bei der betroffenen Person einen massiven Ärger auszulösen.» Der neue Straftatbestand steht in echter Konkurrenz insbesondere zu Ehrverletzungsdelikten wie Verleumdung (Art. 174 StGB), das heisst, ein Deepfake-Video könnte zu einer Bestrafung wegen Identitätsmissbrauch und Verleumdung führen.

Für ein Strafverfahren müsste Sibel Arslan einen Strafantrag stellen (Art. 30 StGB). Identitätsmissbrauch ist ein Antragsdelikt und kein Offizialdelikt. Ab Kenntnis der Täterschaft läuft eine Antragsfrist von drei Monaten (Art. 31 StGB).

Mögliche Hürden für rechtliche Schritte durch Sibel Arslan

Sibel Arslan wird sich rechtliche Schritte allerdings gut überlegen müssen. Arslan muss sich fragen, ob sich der Aufwand lohnt und was der mögliche Nutzen ist.

Rechtliche Schritte würden bedeuten, dass Andreas Glarner als politischer Gegner von Sibel Arslan während dem oder den Verfahren immer wieder neue Medienaufmerksam erhält. Die Provokationen von Glarner werden von vielen Medien aufgenommen, weil sie für willkommene Aufmerksamkeit sorgen.

Rechtliche Schritte würden auch bedeuten, dass Sibel Arslan einen erheblichen Aufwand betreiben müsste, insbesondere finanziell und zeitlich. In finanzieller Hinsicht müsste Arslan auch im besten Fall voraussichtlich drauflegen und aufgewendete Zeit wäre für immer verloren.

Ein Zivilverfahren könnte besonders aufwendig sein, aber auch ein Strafverfahren wäre kein Selbstläufer. Viele Staatsanwaltschaften sind überlastet und Verfahren wegen Meinungsdelikten sind unbeliebt, gerade auch in einem politischen Kontext.

Ich vermute, dass Sibel Arslan bei allem berechtigten Ärger ihre Zeit besser nutzen kann, als rechtliche Auseinandersetzungen mit einem bekannten Provokateur aus der SVP zu führen.

Mit Blick auf die Nationalratswahlen vom 22. Oktober 2023 könnte die aktuelle Medienaufmerksamkeit die Wählerinnen und Wähler von Sibel Arslan allenfalls sogar zusätzlich mobilisieren und damit bei der Wiederwahl helfen.

In jedem Fall hat Andreas Glarner dem Identitätsmissbrauch als Straftatbestand viel Aufmerksamkeit verschafft, selbst wenn es im vorliegenden Fall nicht zu einem Strafverfahren kommt.


Nachtrag I: Strafrechts­professorin sieht strafbaren Identitäts­missbrauch

Prof. Monika Simmler vom Kompetenzzentrum für Strafrecht und Kriminologie der Universität St.Gallen (HSG) geht davon aus, dass Andreas Glarner mit dem Deepfake-Video einen strafbaren Identitätsmissbrauch begangen hat:

«Der neue Tatbestand zum #Identitätsmissbrauch (Art. 179decies StGB) ist seit gerade mal sechs Wochen in Kraft und Glarner hat schon dagegen verstossen.»


Nachtrag II: Superprovisorische Verfügung gegen Andreas Glarner

Nach Angaben von CH Media hat Sibel Arslan auf das Deepfake-Video mit vorsorglichen Massnahmen reagiert:

«Arslan hat mittels superprovisorischer Verfügung erwirkt, dass der Rechtspolitiker das Video löschen muss. Maximal vier Stunden Zeit ab Erhalt bleiben ihm dazu, so steht es im Schreiben des Zivilgerichts Basel-Stadt, das dieser Redaktion vorliegt. Kurz nach 18 Uhr abends war das Video tatsächlich bereits gelöscht.

Glarner ist es unter Strafandrohung verboten, das Video oder Teile davon anderweitig zu verbreiten. Ihm bleibt die Möglichkeit, innert zehn Tagen eine Stellungnahme abzugeben oder eine Verhandlung zu verlangen.»

Im Kanton Basel-Stadt gibt es die Besonderheit, dass superprovisorische vorsorgliche Massnahmen direkt beim Zivilgericht mündlich beantragt werden können. Das Begehren muss nicht mit einem aufwendigen Schriftsatz gestellt werden, was Zeit und damit auch Geld spart. Ferner entscheidet das Gericht direkt, was im Erfolgsfall eine schnelle Verfügung ermöglicht.


Nachtrag III: «Datenschutz Plaudereien» über Identitäts­missbrauch im Wahlkampf

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