40 Jahre Volkszählungsurteil: Ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur eine Illusion?

Bild: Volkszählungsurteil und informationelle Selbstbestimmung mit digitalen Daten (KI-generiert)

Mit dem Volkszählungsurteil wurde in Deutschland am 15. Dezember 1983 durch das Bundes­verfassungs­gericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung etabliert.

Dieser «heilige Gral des Datenschutzrechts» gilt als Selbstverständlichkeit, aber gibt es tatsächlich ein Recht auf informationelle Selbst­bestimmung?

Das Bundesgericht in der Schweiz behauptet jedenfalls in verschiedenen Urteilen, es gäbe ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, beispielsweise in BGE 146 I 11:

«[Das] Recht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert, dass grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind, jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen über sie bearbeitet werden»

In den letzten Jahren kommt immer häufiger Kritik am Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf. Gibt es das Recht überhaupt?

Aus Anlass von 40 Jahren Volkszählungsurteil sprach ich für die «Datenschutz Plaudereien» mit Prof. Florent Thouvenin (Universität Zürich) über seinen kritischen Blick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

In der Podcast-Episode diskutieren Florent Thouvenin und ich, welche Bedeutung das Volks­zählungs­urteil für die Schweiz hatte und wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in die Schweiz importiert wurde. Wir diskutieren ferner, wieso wir das Recht mindestens in der Schweiz nicht oder kaum sehen. Wir diskutieren schliesslich, was mögliche Alternativen im schweizerischen Datenschutzrecht zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind.

Florent Thouvenin: Kritik am Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Cover: «Informationelle Selbstbestimmung: Intuition, Illusion, Implosion» von Florent Thouvenin

Thouvenin ist einer der wenigen schweizerischen Kritiker, zuletzt mit seiner Schrift «Informationelle Selbstbestimmung: Intuition, Illusion, Implosion». Mit seiner neuen Schrift entzaubert Thouvenin das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Schweiz.

Vor rund einem Jahr hatte Thouvenin bereits am Datenschutz-Festival der Digitalen Gesellschaft den kritischen Vortrag «Recht auf informationelle Selbstbestimmung?!» gehalten.

Thouvenin zeigt in seiner Schrift, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund einer Behauptung von Prof. Rainer J. Schweizer im St.Galler Kommentar zur Bundesverfassung von 2003 als Grundrecht in die Schweiz importiert wurde.

Seit 2003 behauptet das Bundesgericht pauschal ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung mit Verweis auf Art. 13 Abs. 2 BV. Auch in der Botschaft zum neuen Datenschutzgesetz (DSG) fand sich eine entsprechende Behauptung:

«Das DSG konkretisiert auf Gesetzesebene das in Artikel 13 Absatz 2 BV festgehaltene Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Personendaten, d. h. das Recht der betroffenen Person, grundsätzlich selbst zu bestimmen, ob und zu welchen Zwecken Daten über sie bearbeitet werden dürfen.»

Wo findet sich im neuen Datenschutzgesetz tatsächlich das Recht auf informationelle Selbst­bestimmung?

Thouvenin fasst diese «Schutzgutmisere» (Winfried Veil) im Datenschutzrecht in seiner Schrift unter anderem wie folgt zusammen:

«Die Idee der informationellen Selbstbestimmung leuchtet zwar intuitiv ein, hält einer näheren Betrachtung aber nicht stand. Eine Analyse des DSG zeigt, dass die Idee für die Bearbeitung von Personendaten durch Bundesorgane im DSG überhaupt nicht und für diejenige durch Private nur punktuell umgesetzt worden ist.»

Und:

«Tatsächlich lässt sich eine ‹informationelle Selbstbestimmung› weder sinnvoll rechtlich umsetzen noch überzeugend normativ begründen. Die Idee sollte deshalb aufgegeben und das DSG auf eine tragfähige konzeptionelle Grundlage gestellt werden.»

Deutschland: Relativierung mit dem «Recht auf Vergessen I»-Urteil

In Deutschland wurde das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch das Bundes­verfassungs­gericht spätestens mit seinem Urteil «Recht auf Vergessen I» von 2019 relativiert:

«[D]as Recht auf informationelle Selbstbestimmung enthält [k]ein allgemeines oder gar umfassendes Selbstbestimmungsrecht über die Nutzung der eigenen Daten. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet den Einzelnen aber die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich und von ihnen genutzt werden. Es enthält damit die Gewährleistung, über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substantiell mitzuentscheiden […].»

Das Bundesgericht hat bislang das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für die Schweiz weder überzeugend begründet noch die deutsche Relativierung nachvollzogen.

Im europäischen Kontext fällt auf, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Wesentlichen eine deutsche Idee blieb. Das Recht findet sich beispielsweise nicht in der Europäische Datenschutzkonvention (Konvention Nr. 108) und nur punktuell in der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).

Die Erkenntnis, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung intuitiv ist, sich aber als Illusion entpuppt und deshalb implodiert (Florent Thouvenin), bedeutet nicht, dass der Datenschutz über Bord geworfen werden soll. Die Erkenntnis kann und sollte im Gegenteil zur Diskussion über Alternativen anregen.

Diskussionsgrundlagen in der Schweiz sind unter anderem das neue Datenschutz-Konzept der Digitalen Gesellschaft und die Bestrebungen für ein Recht auf «digitale Unversehrtheit».

2 Kommentare

    1. @Anonymus:

      Leider geht beim verlinkten Beitrag, wie bei vielen Beiträgen zum Thema, vergessen, dass das Bundesverfassungsgericht das «Recht auf informationelle Selbstbestimmung» mit dem «Recht auf Vergessen I»-Urteil auf realistische Dimensionen eingedampft hat …

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