Alle Jahre wieder: Wikipedia und das fragwürdige Betteln um Spenden

Screenshot: Spendenaufruf bei Wikipedia

Weihnachtszeit ist Spendenzeit, auch für die freie Enzyklopädie Wikipedia. Wer die Wikipedia in diesen Tagen besucht, wird – wie jedes Jahr – penetrant zum Spenden aufgefordert.

Was viele Spenderinnen und Spender nicht wissen: Die Wikipedia ist für ihren weiteren Betrieb nicht auf Spenden angewiesen. Spenden von Nutzerinnen und Nutzern in der Schweiz gehen denn auch nicht an die Betreiberin der Wikipedia, sondern an den schweizerischen Verein «Wikimedia CH».

Betreiberin der Wikipedia ist die Wikimedia Foundation Inc. in den USA. Es handelt sich um ein gemeinnütziges Unternehmen gemäss amerikanischem Recht und nicht um eine Stiftung im deutschsprachigen Sinn.

Reich dank freiem Wissen: Wikimedia Foundation Inc. schwimmt im Geld

Mit dem Betteln um Spenden bei der Wikipedia wird bei vielen Nutzerinnen und Nutzern der falsche Eindruck erweckt, die Wikipedia stünde kurz vor dem finanziellen Ende, es drohe ein Verkauf oder die Wikipedia bleibe ohne Spenden nicht werbefrei.

Dieser Eindruck ist falsch, denn die Wikimedia Foundation verfügt über ein beeindruckendes Vermögen. So wurden per 30. Juni 2023 rund 255 Millionen Dollar als Vermögen ausgewiesen. Bei der eng mit der Wikimedia Foundation verbundenen Tides Foundation lagen zum gleichen Zeitpunkt weitere rund 119 Millionen Dollar im sogenannten Wikimedia Endowment.

Die Wikimedia Foundation erzielte im Geschäftsjahr 2022 / 2023 insgesamt Spenden in Höhe von über 164 Millionen Dollar (und insgesamt Einnahmen von über 180 Millionen Dollar). Der Betrieb der Wikipedia kostet nur einen kleinen Teil davon. Die Wikimedia Foundation allein könnte die Wikipedia-Infrastruktur ohne eine einzige Spende und ohne jeden Vermögensertrag noch über 75 Jahre betreiben.

Die Wikimedia Foundation schwimmt seit Jahren im Geld. In der Folge versucht sie mit zahlreichen Aktivitäten und Tätigkeiten jenseits der Wikipedia, das viele Geld auszugeben. Für die Wikimedia Foundation arbeiten über 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich über hohe Löhne freuen dürfen (und teilweise über «goldene Fallschirme»).

Seit 2021 betreibt die Wikimedia Foundation das gewinnstrebige Unternehmen Wikimedia LLC. Das Unternehmen verkauft den Zugang zu den Inhalten der Wikipedia, die grösstenteils ehrenamtlich von Freiwilligen erstellt und gepflegt werden, mittels «Enterprise API» an «Big Tech»-Unternehmen. Google beispielsweise hat es damit einfacher, Ergebnisse seiner Suchmaschine mit Wikipedia-Inhalten anzureichern.

Verein «Wikimedia CH»: Spenden dank Betteln bei Wikipedia

Dabei gehen nicht einmal alle Spenden an die Wikimedia Foundation. Wer beispielsweise als Nutzerin oder Nutzer in der Schweiz den Spendenaufrufen folgt, landet seit Jahren beim Verein «Wikimedia CH».

Ein aktueller Spendenaufruf, der bei Wikipedia erscheint, lautet unter anderem wie folgt:

«Bitte ignorieren Sie diese kurze Nachricht nicht. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Es ist wichtig. Wikipedia war zu Beginn einer der ersten Orte im Internet, an denen Menschen gratis und werbefrei lernen konnten. Dieser Ort gehört Ihnen. Nur 2 % unserer LeserInnen spenden. Daher hilft alles, was Sie geben können, ob 5 CHF oder 25 CHF. — Wikimedia CH»

Der Spendenaufruf erweckt den falschen Eindruck, für den weiteren Betrieb der Wikipedia sei finanzielle Unterstützung erforderlich. Wer genau hinschaut, entdeckt am Textende den Namen «Wikimedia CH», von dem viele Nutzerinnen und Nutzer vermutlich noch nie gehört haben.

Wer eine Zahlungsmöglichkeit auswählt, zum Beispiel TWINT, erhält insbesondere folgenden Hinweis:

«Mit Ihrer Spende […] willigen [Sie] ein, Ihre persönlichen Informationen mit dem Verein Wikimedia CH sowie dessen Dienstleistungsanbietern in der Schweiz zu teilen.»

Wer einen Betrag auswählt, zum Beispiel 100 Franken, und auf «Jetzt spenden» klickt, verlässt die Wikipedia und gelangt auf eine Website von «Wikimedia CH», nämlich «donate.wikimedia.ch».

Screenshot: Spendenaufruf von «Wikimedia CH»

Auf dieser Website heisst es unter anderem:

«Helfen Sie uns, damit der Zugang zu verlässlichem Wissen für alle kostenlos und werbefrei bleibt. Ihre Spende erlaubt Milliarden von Menschen täglich wichtige Informationen auf Wikipedia und anderen Wikimedia-Plattformen zu nutzen. »

Der Verein «Wikimedia CH» betreibt nicht die Wikipedia und übernimmt auch keine inhaltliche Verantwortung für die Wikipedia. Für den weiteren Betrieb der Wikipedia sind keine Spenden erforderlich, schon gar nicht Spenden an «Wikimedia CH».

«Wikimedia CH» ist nach Angaben in der deutschsprachigen Wikipedia ein «gemeinnütziger Verein, der die freie Verbreitung von Wissen in der Schweiz unterstützt», ein lobenswertes Ziel!

Der Verein «Wikimedia CH», der aktuell 14 Personen beschäftigt und mehrere 100 Mitglieder zählt, organisiert viele Aktivitäten, mit und ohne Bezug zur Wikipedia. Der Betrieb der Wikipedia erfolgt unabhängig von diesen Aktivitäten und überhaupt unabhängig von «Wikimedia CH».

In der aktuellen «Wikimedia CH»-Strategie 2022–2026 kommt die Wikipedia nicht direkt vor. In den aktuellen Statuten von «Wikimedia CH» wird die Wikipedia lediglich als bekanntestes Beispiel für Wiki-Software genannt.

Screenshot: Auszug aus der Jahresrechnung 2020 von «Wikimedia CH».

Die jüngste Jahresrechnung des Vereins «Wikimedia CH», die öffentlich zugänglich ist, stammt – soweit ersichtlich – aus dem Jahr 2020. Erwartungsgemäss ist der Verein «Wikimedia CH» fast vollständig von Spenden abhängig.

Der Verein schwimmt genauso wie die Wikimedia Foundation im Geld. Bei Einnahmen von knapp 4.1 Millionen Franken erzielte der Verein einen Gewinn von über 1.6 Millionen Franken.

Wie viele Spenden würde der Verein «Wikimedia CH» erhalten, wenn die Spenderinnen und Spendern wüssten, dass ihre Spenden für den weiteren Betrieb der Wikipedia nicht benötigt werden und «Wikimedia CH» gar keinen Einfluss auf den Betrieb der Wikipedia hat?

Das Gleiche gilt für die Vereine Wikimedia Deutschland und Wikimedia Österreich sowie mutmasslich für alle weiteren «Wikimedia Chapters». Welche «Chapters» aktuell berechtigt sind, direkt bei Wikipedia um Spenden zu bitten, ist unklar; vor Jahren waren es Deutschland, Frankreich, die Schweiz und das Vereinigte Königreich.

Für Deutschland beschrieb Anwaltskollege Markus Kompa schon 2012 unter dem Titel «Wikipedia-Experiment» kritisch den Umgang mit den Wikipedia-Spenden in Deutschland. Aufschlussreich ist auch ein Artikel der FAZ von 2016:

«Wikimedia-Deutschland hat 82 hauptamtliche Mitarbeiter. Das große Freiwilligen-Projekt arbeitet längst wie ein durchaus professionelles Medienunternehmen. Neben dem Heer an Software-Spezialisten reicht die Liste von den Empfangsdamen über Spendensammler und PR-Strategen bis hin zu sechs Werksstudenten.»

Und:

«Beim Posten ‹Ideenförderung› wird es da schon interessanter: Autoren können nämlich bei Wikimedia anklopfen und für ein geplantes Projekt um Unterstützung bitten. Flugticket, Tankfüllung und das Abendessen oben drauf – alles ist möglich und obendrein nicht an Landesgrenzen gebunden. Die Hilfe für den Dienst an der Wikipedia endet allerdings nicht bei profanen Reisekosten. Wikimedia verleiht auch Technik. So hat der Verein Kameras, Laptops oder Mikroskope auf Lager und mittlerweile sogar Drohnen angeschafft. Um Aufstiegsgenehmigung und Versicherung des kostspieligen Geräts kümmert sich Wikimedia übrigens gleich mit. Für so viel wertvollen Service muss man nicht einmal einer der 6000 aktiven Autoren der deutschen Wikipedia sein.[…] Grundsätzlich steht die große Projekt-Reise auf Wikipedia-Rechnung so aber jedem offen. »

Inzwischen – also rund sieben Jahre später – zählt Wikimedia Deutschland übrigens bereits rund 160 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, beinahe eine Verdoppelung gegenüber 2016.

Erfolgreiches Fundraising dank Wikipedia: «Revenue Sharing» mit Wikimedia Foundation

Die «Wikimedia Chapters» spielen beim Fundraising geschickt damit, dass sie in der breiten Öffentlichkeit der Wikipedia zugeordnet werden. Unabhängig geben sie sich häufig nur im Kleingedruckten und für den Fall, dass es darum gehen könnte, in die Verantwortung für Betrieb und Inhalt der Wikipedia genommen zu werden.

Interessanterweise führt der Verein «Wikimedia CH» einen Teil der erhaltenen Spenden an die Wikimedia Foundation ab. Nach Angaben beispielsweise in der Jahresrechnung 2018 bestehen ein Lizenzvertrag und ein Fundraising-Vertrag mit der Wikimedia Foundation:

«[…] Wikimedia CH is attached via a license agreement and a fundraising contract to the Wikimedia Foundation, otherwise the organizations are independent. The contract defines all assignable fundraising donations in November and December 2018 as ‹Wikimedia Foundation donations›. […]»

Das aktuelle «Chapter Agreement» für den Verein «Wikimedia CH» scheint vom 20. Juni 2007 zu stammen. Das aktuelle «Fundraising Agreement» ist – soweit ersichtlich – nicht öffentlich zugänglich.

Gemäss einem veröffentlichten Fundraising Agreement von 2011 müssen «Chapters» wie der Verein «Wikimedia CH» einem «Revenue Sharing» mit der Wikimedia Foundation (Abkürzung «WMF») zustimmen:

«Chapters […] shall retain funds up to their fundraising target as presented  […] plus reasonable fundraising expenses up to 10% of online revenue […]. If the fundraising revenue target is greater than 150% of the chapter’s 2010/11 share of fundraising after revenue sharing, the WMF reserves the right to review the chapter’s program plan and reduce the target by up to the full difference between the target and 150% of the chapter’s 2010/11 share of fundraising after revenue sharing […]. The Chapter agrees to contribute all fundraising revenue above their fundraising target to WMF. »

Das ebenfalls veröffentlichte Fundraising Agreement zwischen WMF und «Wikimedia CH» von 2012 erwähnt denn auch tatsächlich ausdrücklich ein anhaltendes «Revenue Sharing», abgesichert durch eine automatische fristlose Kündigung bei Nichteinhaltung:

«During the Term, the Chapter agrees to:

Fulfill Chapter commitments under the 2011/12 fundraising agreement by September 1, 2012, including the revenue sharing commitment. Failure to fulfill 2011/12 agreement obligations by September 1, 2012, will result in the automatic termination this agreement if not cured within thirty (30) days. During any Renewal Periods, this obligation shall carry over to September 2, 2013, and September 1, 2014, respectively. »

Für Deutschland beschrieb ein Zeitungsartikel von 2016 den Ablauf wie folgt:

«Das Geld stammt teilweise aus Mitgliederbeiträgen, größtenteils aber sind es die Spenden, die bei der jährlichen Kampagne im Dezember eingesammelt werden. Der globale Verteilprozess ist kompliziert: Die über das deutsche Banner eingeworbenen Spenden gehen zunächst an die gemeinnützige Wikimedia Fördergesellschaft mbH, eine hundertprozentige Tochter der Wikimedia Deutschland. Die reicht rund 60 Prozent an die eigentliche Seitenbetreiberin der Wikipedia weiter, die amerikanische Wikimedia Foundation. Den Rest überweist die Fördergesellschaft direkt an den deutschen Verein. Dieser schickt außerdem jährliche Anträge an die Wikimedia Foundation in San Francisco und wird dann noch mal mit einer Ausschüttung in Höhe von rund einer Million Euro berücksichtigt.»

Nebenbei: «Wikimedia CH» sucht eine oder einen «Digital Marketing/Fundraising Expert 80-100%». Die Stelle war ursprünglich bis am 31. Mai 2023 ausgeschrieben, konnte aber anscheinend noch nicht besetzt werden.

Weiterführende Informationen


Nachtrag: Spenden-E-Mails von «Wikimedia CH»

Screenshot: Spenden-E-Mail des Vereins «Wikimedia CH»

Ein Leser hat auf Spenden-E-Mails des Vereins «Wikimedia CH» hingewiesen, die beispielhaft zeigen, wie mit Verweis auf den Betrieb der Wikipedia für Spenden zu Gunsten der Vereinskasse geworben wird.

In einer E-Mail von Anfang November 2023 schrieb Jenny Ebermann, die Geschäftsführerin von «Wikimedia CH», in einer E-Mail unter anderem:

«Die Benutzung von Wikipedia ist zwar kostenlos, doch der Betrieb leider nicht. Als Non-Profit-Organisation sind wir auf Spenderinnen und Spender wie Sie angewiesen, damit Wikipedia werbefrei und unabhängig bleiben kann.

Bitte leisten Sie eine steuerlich absetzbare Spende, indem Sie auf die folgende Schaltfläche klicken. »

7 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese interessante Zusammenstellung. Das weckt bei mir direkt die Frage, wofür die eingeworbenen Spenden denn nun konkret aufgewendet werden (abgesehen vom Anteil, der direkt an die Hauptorganisation in den USA geht).

    1. @Paul:

      Der Verein «Wikimedia CH» veröffentlicht jeweils einen Jahresbericht («Annual Report»). Der Jahresbericht 2022 ist unter https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/ff/WMCH_Annual_Report_2022_FullLength_01.pdf abrufbar. Im Bericht werden viele Aktivitäten aufgezählt.

      Die Jahresberichte sind unter anderem auf der Webseite «Use of Funds» unter https://donate.wikimedia.ch/en/official-reports.html?fromindex=1&lang=de verlinkt. Interessanterweise sind die Jahresrechnungen auf dieser Webseite nur bis und mit 2018 verlinkt.

      Im Wiki der Wikimedia Foundation Inc. unter https://meta.wikimedia.org/wiki/Reports gehen die Jahresberichte und Jahresrechnungen – soweit ersichtlich – bis und mit 2020. Dito unter https://meta.wikimedia.org/wiki/Wikimedia_CH#Reports.

    1. Ich glaube nicht, dass es sich um ein Thema für ein juristisches Vorgehen handelt. Ich glaube, dass das Thema daran erinnert, dass man immer prüfen sollte, wem man wofür spendet – gerade auch, wenn Spendenaufrufe versuchen, Gefühle von Dringlichkeit und Schuld zu erzeugen.

      1. Danke für Ihre Antwort!

        Heisst dies im Klartext, dass die von wikimendia.ch verwendeten Formulierungen in juristischer Hinsicht völlig unbedenklich sind?
        Wenn ja, hätten sie dafür einen Preis verdient ;.(

  2. Auch von mir ein herzliches Dankeschön für diese (höchstfrustrierende) Aufklärung. Selbstverständlich bin auch ich schon auf diese Wir-brauchen-dringend-Spenden-Betteleien hereingefallen. Beim Überfliegen dieses Beitrages entsteht vor allem der Eindruck eines unübersichtlichen, verwirrlichen und verzweigten Beteiligungs- und Überweisungssystem. Informationen stehen zwar zur Verfügung, sind aber offenbar häufig völlig veraltet. Das frustriert mich viel mehr als die Tatsache, dass irgendwelche Vereine allenfalls viel Geld haben. Wenn sie damit vernünftiges Zeugs machen, wäre nichts dagegen einzuwenden. Mittlerweile habe ich da allerdings meine Zweifel, solche Verschleierungs- und Verwedelungstaktiken angewendet werden, damit niemand mehr durchblickt, ohne einen Riesenaufwand betrieben zu müssen, und Geld erbettelt wird unter Vorspiegelung falscher Tatsachen.

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