Justitia wachrütteln

Daniel Hürlimann gründet eine Online-Zeitschrift ohne jegliche Schranken, vertwittert die Mitteilungen des Bundesgerichts und bemüht sich darum, dass alle Gerichte ihre Urteile zugänglich machen.

Brigitte Hürlimann
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Entstaubt die manchmal arg verkrustete Justiz: Daniel Hürlimann. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Entstaubt die manchmal arg verkrustete Justiz: Daniel Hürlimann. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht. Und: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Wo steht solcherlei geschrieben? Erstens in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, und zwar in der Präambel, ganz unten, siebter Absatz. Und zweitens, seit Ende August dieses Jahres, auch in einer neuen Online-Jus-Zeitschrift, die schranken- und kostenlos zugänglich ist, initiiert und mitbegründet vom promovierten Juristen, Rechtsanwalt und Forscher Daniel Hürlimann. «Sui-generis.ch» heisst die Publikation – der Präambeltext dient dort als Hintergrundillustration, die einschlägige Stelle ist mit gelbem Leuchtstift markiert, und der Zeitschriftengründer hat sich für die rätoromanische Fassung entschieden. Das sei weniger aufdringlich und weniger dick aufgetragen, sagt Hürlimann, der derzeit an den Universitäten Luzern und Zürich forscht und lehrt, unter anderem im Rahmen einer Nationalfondsstudie. Für seine Habilitation setzt er sich mit der Regulierung von Entscheiden am Lebensende auseinander – auch eine Frage von Freiheit, eine ganz zentrale sogar und eine höchst umstrittene.

Aufmüpfiger Querdenker

Typisch für den 29-jährigen Juristen, dass er wieder einmal ein heisses Eisen anpackt. Es ist nicht sein erstes, und es wird nicht das letzte bleiben. Freiheiten zu erkennen, zu nutzen und gleichzeitig Freiheitseinschränkungen anzuprangern und zu bekämpfen, das ist seine Intention, ist die Basis seines Wirkens. Daniel Hürlimann, verheiratet, Vater einer kleinen Tochter, wohnhaft in Bern, ständig im Zug unterwegs und fast immer online, darf mit Fug als aufmüpfiger Querdenker, als unbequemer Störer und Entstauber einer manchmal doch arg verkrusteten und wenig beweglichen Justiz bezeichnet werden.

Ein grosses Anliegen ist ihm beispielsweise der freie Zugang zur Wissenschaft oder aber ein zeitgemässer Umgang mit Studierenden. Im Rahmen seiner universitären Lehrtätigkeit stellt er nicht nur sämtliche Unterrichtsunterlagen für jedermann zugänglich aufs Netz, er lässt die Studierenden auch darüber abstimmen, wie sie geprüft werden möchten: mit dem Laptop auf dem Tisch, mit Internetverbindung und damit mit unbeschränktem Zugang zu allen auffindbaren Informationen; also einfach so, wie die Juristen in der Praxis ihre Fälle lösen. Bei den anderen, den herkömmlichen Prüfungsvarianten, wird von Hand geschrieben und dürfen allenfalls gewisse Bücher und Gesetze mitgenommen werden. Das bedeutet: auswendig lernen oder abschreiben. Die Studierenden haben sich für die Laptop/Internet-Variante entschieden.

Der gleiche Geist prägt auch die von Hürlimann mitbegründete Online-Jus-Zeitschrift. Es müssen weder Formulare ausgefüllt, Personendaten angegeben, Passwörter kreiert noch Zahlungen geleistet werden; Letztgenanntes ist auf freiwilliger Basis möglich, in Form von Spenden oder freiwilligen Abo-Gebühren. Auf «sui-generis.ch» sind sämtliche Aufsätze auf einen Klick auffindbar und lesbar. In der ersten Ausgabe werden Themen wie Vaterschaftsurlaub, asylrechtliche Überlegungen zu Edward Snowden, die Gurlitt-Sammlung oder die Legitimation von Gewaltdarstellungen veröffentlicht – lauter Beiträge also, die einen aktuellen Bezug haben und auch Nichtjuristen ansprechen, was die ersten Medienreaktionen zeigen.

Dies ist ganz im Sinne von Daniel Hürlimann: Von engen Wissenschaftsbegriffen hält er ebenso wenig wie von unnötigen Kategorisierungen oder von Diskursen, die abgeschirmt im Elfenbeinturm stattfinden. «Open access» und Interdisziplinarität, davon ist der Jurist überzeugt, führen zur Fortentwicklung der Wissenschaft, zu kreativen Ansätzen und zu Lösungen. Denn wie sollen neue Erkenntnisse gewonnen werden, wenn man die alten nicht kennt beziehungsweise nicht auffinden kann?

Vor solchen Problemen stehen die Juristinnen und Juristen regelmässig dann, wenn sie die hiesige Rechtsprechung rezipieren wollen. Erstinstanzliche Urteile sind praktisch unauffindbar, was Daniel Hürlimann in einer Studie, die am Montag auf «sui-generis.ch» erstmals publiziert wurde, nachweist. Der Autor hatte in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Thurgau und Zug vergebens um die Zustellung von Urteilen gebeten: «Während die Beschlüsse der Exekutive und Legislative sowohl auf eidgenössischer als auch auf kantonaler Ebene allgemein zugänglich sind, gilt dies nur beschränkt für Gerichtsurteile», hält Hürlimann fest. Dabei diene die Urteilsöffentlichkeit der Unterbindung von Geheimjustiz und mache die richterlichen Erkenntnisse transparent, was die allgemeine Rechtskenntnis fördere, bei Juristen und Nichtjuristen. Immerhin publiziert ein gutes halbes Dutzend Kantone, darunter auch der Kanton Zürich, zumindest die meisten zweitinstanzlichen Urteile. Dabei handelt es sich allerdings nur um einen Bruchteil der Rechtsprechung, werden doch zahlreiche, wenn nicht die meisten richterlichen Verdikte abschliessend von einer einzigen Instanz gesprochen.

Dass die Tendenz zur Abschottung und Geheimhaltung bis heute gilt, das musste erst kürzlich der Zürcher Rechtsanwalt, IT-Experte und fleissige Twitterer Martin Steiger erfahren. Er hatte beim Bezirksgericht Uster darum gebeten, das schriftlich begründete Urteil in Sachen Kristallnacht-Tweet lesen zu dürfen, was ihm bis anhin verweigert wird. Wie Hürlimann im Rahmen seiner Arbeit, verfasst übrigens an der Richterakademie, hat sich auch Steiger mit voller Absicht «nur» als interessierter Bürger gemeldet und keinerlei Begründung vorgeschoben. Hürlimann und Steiger vertreten klar die Meinung, dass die Rechtsprechung für jedermann zugänglich sein muss, allenfalls anonymisiert, falls Persönlichkeitsrechte zu schützen sind. Eine durchgehende Anonymisierung wird von Hürlimann kritisch hinterfragt; mit Hinweis auf die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und wegen der eingeschränkten Kontrollmöglichkeit.

Alle Urteile aufs Netz

Was den Zugang zur Rechtsprechung betrifft, rüttelt Daniel Hürlimann nicht zuletzt auch am Bundesgericht. Er verlangt vom höchsten Gericht, dass jene Urteile vor 2000, die intern anonymisiert und digitalisiert vorliegen, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Gespräche mit der Geschäftsleitung des Bundesgerichts sind im Gange. Hürlimann begründet sein Begehren damit, dass regelmässig auf nicht publizierte Urteile des Bundesgerichts hingewiesen werde. Für einen Rechtsanwalt oder für die Wissenschaft, sagt er, sei es eine unmögliche Situation, erst im Nachhinein zu erfahren, dass sich die höchsten Richter mit einer spezifischen Frage bereits auseinandergesetzt haben; in einem Urteil, das kaum auffindbar ist.

Überhaupt, so der umtriebige 29-Jährige, müsse sich das Bundesgericht öffnen. Unter einem eigens dafür geschaffenen Twitter-Account verbreitet Hürlimann sämtliche Mitteilungen des Bundesgerichts – so lange, bis dies das Gericht selber übernimmt. Dass er den Account @chBGer nennt, ist eine Provokation. Daniel Hürlimann hat aber versprochen, den Namen sofort abzutreten, falls sich das Bundesgericht für ein Tätigwerden entscheidet. «Die Gerichte müssen besser und aktiver kommunizieren», sagt er, «und zwar alle Gerichte.» Sein Motto lautet, auf einen Begriff reduziert und damit ganz im Sinne der knappen Twittersprache: Rechtsöffnung!

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