Urteil: Adolf Hitler-Retweet ist persönlichkeitsverletzend, aber nicht strafbar

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Rubrum

Hinweis: Das Urteil wurde durch das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 17. Oktober 2016 (SB160135, rechtskräftig) aufgehoben, nachdem der Privatkläger seinen Strafantrag zurückgezogen hatte.

Am 26. Januar 2016 hatte ein Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich einen Journalisten für einen Retweet vom strafrechtlichen Vorwurf der Ehrverletzung freigesprochen.

In zivilrechtlicher Hinsicht hingegen hatte der Einzelrichter eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung festgestellt und der erwähnte Journalist musste als Genugtuung einen Tweet mit nachfolgendem Inhalt veröffentlichen:

«Bezirksgericht Zürich: Retweet von ‹Hermann ‹Dölf› Lei› nicht strafbar, aber persönlichkeitsverletzend. Urteil Nr. GG150250-L.»

Den strafrechtlichen Freispruch hatte der Einzelrichter – anlässlich der mündlichen Urteilseröffnung für beide Parteien überraschend – mit der strafrechtlichen Privilegierung von Twitter als Medium begründet

Inzwischen wurde das «salomonische» Urteil GG150250-L mit Begründung auf der Website der Zürcher Gericht als PDF-Datei veröffentlicht. Das Gericht erhofft sich vom erwähnten Tweet, dass Interessierte aufgrund der Berichterstattung in den Medien auf das begründete Urteil aufmerksam werden und sich selbst ein Bild machen können.

Aus diesem Grund veröffentliche ich nachfolgend die Urteilsbegründung im veröffentlichten Volltext – ergänzt insbesondere mit zahlreichen Weblinks.

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Rubrum (Anträge)

«Erwägungen

1. Retweet als Gegenstand des Strafverfahrens

Der Privatkläger ist Rechtsanwalt und Politiker. Landesweit bekannt wurde er durch die Rolle, die er beim Rücktritt des Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand gespielt hatte. Der Beschuldigte ist Redaktor der WochenZeitung (WoZ). In der WoZ vom 14. Juni 2012 veröffentlichte er einen Artikel über den Privatkläger:

Als Halter der Internet-Adresse ‹adolf-hitler.ch› war damals ‹X. AG, Hermann Lei› eingetragen. Das ergab eine Abfrage auf der Website der Stiftung SWITCH, welche Domains mit den Endungen ‹.ch› und ‹.li› verwaltet. Der Beschuldigte ging in seinem Artikel der Frage nach, was der Privatkläger mit ‹adolf-hitler.ch› zu tun hat.

‹NewsMän› verbreitet über seinen Twitter-Account Medienberichte, die ihm interessant scheinen. Früher nannte er sich ‹MusicMän2013›. Seine Identität ist nicht bekannt.

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Anklage (Seite 1)

Am 13. Juli 2012 veröffentlichte ‹MusicMän2013› über Twitter eine Kurznachricht. Der Tweet wies auf einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und einen Leserbrief hin, mit dem der Privatkläger darauf reagiert hatte. Artikel und Leserbrief drehen sich um einen Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehen über den Rücktritt von Philipp Hildebrand. Sie haben nichts mit der Hitler-Domain zu tun. In seiner Kurznachricht bezeichnete ‹MusicMän2013› den Privatkläger als ‹Hermann ‹Dölf› Lei›. Jene Twitterer, welche die Tweets von ‹MusicMän2013› verfolgen, erhielten diese Kurznachricht auf ihrem eigenen Twitter-Account angezeigt. Zu diesen Followern von ‹MusicMän2013› gehört auch der Beschuldigte.

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Anklage (Seite 2)

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten vor, er habe den Tweet von ‹MusicMän2013› kommentarlos an seine eigenen Follower weitergeleitet. Das Weiterleiten eines Tweets ist denkbar einfach. Der Nutzer braucht lediglich das Retweet-Symbol anzuklicken oder anzutippen, damit der erhaltene Tweet auch auf dem Account der eigenen Follower angezeigt wird.

Wegen dieses Retweets erhebt die Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten Anklage wegen Verleumdung oder Übler Nachrede.

2. Bisheriger Verlauf des Strafverfahrens

Am 16. Juni 2013 zeigte der Privatkläger den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft an und beantragte dessen Bestrafung wegen Verleumdung. Er machte geltend, den fraglichen Retweet erst am 7. Mai 2013 entdeckt zu haben, so dass die dreimonatige Antragsfrist (Art. 31 StGB) gewahrt sei.

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Anklage (Seite 3)

Die Staatsanwaltschaft erledigte das Strafverfahren mit Einstellungsverfügung vom 11. April 2014. Sie bezweifelte die Rechtzeitigkeit des Strafantrags und hielt dafür, der Zusatz ‹Dölf› sei für die meisten Leser unverständlich oder allenfalls als Hinweis auf die Geschichte mit der Hitler-Domain zu verstehen, keinesfalls werde der Privatkläger damit aber als Anhänger des Nationalsozialismus diskreditiert.

Das Obergericht des Kantons Zürich hob die Verfügung vom 11. April 2014 am 26. Januar 2015 auf: Es bestünden keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür, dass der Privatkläger den fraglichen Retweet schon früher entdeckt habe, im übrigen handle es sich um einen Zweifelsfall, der untersucht gehöre (Erwägung 3.3 und Erwägung 5).

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Anklage (Seite 4)

Die Staatsanwaltschaft versuchte, ‹MusicMän2013› ausfindig zu machen. Das ist bis heute nicht gelungen. Sie befragte den Beschuldigten und den Privatkläger am 1. September 2015 und erhob am 17. September 2015 Anklage. Zur Hauptverhandlung erschienen der Privatkläger, der Beschuldigte und seine Verteidigerin.

3. Anklagesachverhalt

Der Beschuldigte hat bestätigt, dass er den Tweet von ‹MusicMän2013› mit der Bezeichnung ‹Hermann ‹Dölf› Lei› weitergeleitet (‹retweetet›) hat. Die Darstellung des Sachverhalts in der Anklageschrift trifft zu und ist unter den Parteien auch nicht strittig. Der Streit dreht sich um die rechtliche Würdigung des Geschehenen.

4. Rechtliche Würdigung

4.1 Verleumdung und Üble Nachrede

Der Üblen Nachrede macht sich schuldig, wer jemanden bei einem anderen eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen beschuldigt oder verdächtigt, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Der Üblen Nachrede macht sich ebenfalls schuldig, wer eine solche Beschuldigung oder Verdächtigung weiterverbreitet (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Der Verleumdung macht sich schuldigt, wer solche Beschuldigungen oder Verdächtigungen wider besseres Wissen erhebt oder verbreitet (Art. 174 Ziff. 1 StGB).

Der Vorwurf, Sympathien für das Nazi-Regime zu haben, ist rufschädigend (BGE 137 IV 313, E. 2.1.1., S. 315 mit weiteren Hinweisen). Fragen kann man sich einzig, ob der Beschuldigte einen derartigen Vorwurf erhoben hat. Die Staatsanwaltschaft und der Privatkläger erblicken diesen Vorwurf im weitergeleiteten Tweet, in dem von ‹Hermann ‹Dölf› Lei› die Rede war.

4.2 Sonderregelung für Veröffentlichungen in einem Medium

«Wird eine strafbare Handlung durch Veröffentlichung in einem Medium begangen und erschöpft sie sich in dieser Veröffentlichung, so ist […] der Autor allein strafbar.»

Wird eine strafbare Handlung durch Veröffentlichung in einem Medium begangen und erschöpft sie sich in dieser Veröffentlichung, so ist, unter Vorbehalt der nachfolgenden Bestimmungen, der Autor allein strafbar (Art. 28 Abs. 1 StGB). Kann der Autor nicht ermittelt oder in der Schweiz nicht vor Gericht gestellt werden, so ist der verantwortliche Redaktor nach Artikel 322bis StGB strafbar. Fehlt ein verantwortlicher Redaktor, so ist jene Person nach Artikel 322bis StGB strafbar, die für die Veröffentlichung verantwortlich ist (Art. 28 Abs. 2 StGB).

Art. 322bis StGB lautet wie folgt: ‹Wer als Verantwortlicher nach Artikel 28 Absätze 2 und 3 [des Strafgesetzbuchs] eine Veröffentlichung, durch die eine strafbare Handlung begangen wird, vorsätzlich nicht verhindert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Busse.›

4.2.1 Alte und neue Regelung der Presse- bzw. Mediendelikte

Bereits die 1942 in Kraft getretene Urfassung des schweizerischen Strafgesetzbuchs enthielt eine Sonderregelung für strafbare Veröffentlichungen. Sie war auf strafbare Handlungen beschränkt, die ‹durch das Mittel der Druckerpresse› begangen werden. Das umfasste sowohl Zeitungen und Zeitschriften als auch ‹nicht periodische Druckschriften›. Grundsätzlich war allein der Verfasser strafbar. Konnten die Untersuchungsbehörden ihn nicht ermitteln, so waren allenfalls der Verleger, der Redaktor oder der Drucker strafbar, nicht aber alle weiteren Mitwirkenden (vgl. Art. 27 StGB in der Fassung von 1937/1942 [BBl 1937 III 625 ff.]).

Die heutige Regelung trat am 1. April 1998 in Kraft, damals noch als Art. 27 StGB (heute: Art. 28 StGB). Die Ausdehnung der Sonderregelung von der ‹Druckerpresse› auf sämtliche Medien hatte vor allem Radio und Fernsehen im Auge, gilt aber nicht nur für sie (vgl. ZELLER in: NIGGLI/WIPRÄCHTIGER, Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Auflage 2013, N 20 ff. zu Art. 28 StGB).

4.2.2 Rechtsprechung zum Kreis der geschützten Personen

Schon im Jahr 1947 befasste sich das Bundesgericht mit der Tragweite des damaligen Art. 27 StGB:

Auf die Phase vor der Entstehung eines Textes waren die allgemeinen Regeln über die Teilnahme an der Straftat eines andern durchaus anzuwenden. Das Bundesgericht hielt aber auch fest, von all jenen Personen, die sich mit Herstellung und Verbreitung einer Druckschrift befassten, seien allenfalls die in Art. 27 StGB genannten strafbar (Redaktor, Verleger, Drucker, Leiter des Anzeigeteils). Alle anderen, zum Beispiel die Verträger, blieben straflos. Das gilt auch, wenn sie nach den allgemeinen Regeln Gehilfen oder Mittäter einer Ehrverletzung wären (BGE 73 IV 65, S. 67f.).

Was das bedeutet, zeigt ein späterer Entscheid anschaulicher: Ein Musiklehrer, der einem Journalisten Unterlagen für einen kritischen Artikel über das Konservatorium Zürich verschafft hatte, kam als Mittäter, Anstifter oder Gehilfe des Journalisten in Frage (BGE 86 IV 145, E. 1, S. 147).

«Es gehe nicht darum, ein bestimmtes technisches Verfahren zu privilegieren.»

Bereits 1948 erkannte das Bundesgericht, Art. 27 StGB gelte nicht nur für professionell hergestellte Druckerzeugnisse, sondern auch für eine mit Schreibmaschine und Matrize in wenigen hundert Exemplaren hergestellte Broschüre, die Bürger in einer Gemeindewahl verteilt hatten:

Es gehe nicht darum, ein bestimmtes technisches Verfahren zu privilegieren. Vervielfältigte Schriften spielten eine wichtige Rolle in öffentlichen Debatten über Politik, Kunst, Literatur und dergleichen, deswegen sei die Strafbarkeit bei ihrer Herstellung und Verbreitung eingeschränkt (BGE 74 IV 129, E. 2, S. 130 ff.).

Wer alles von der Sonderregelung geschützt ist, zeigt ein Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahr 2002:

Einige Lokalpolitiker und Mitglieder der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) im Wallis, welche die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch ablehnten, beteiligten sich in unterschiedlicher Form an einer Plakataktion, die auf jene Politikerinnen der CVP zielte, die sich für die Fristenlösung einsetzten. Das Bundesgericht sprach jene Personen schuldig, die das Plakat gestaltet oder dafür Informationen beschafft hatten, weil es das Plakat als ehrverletzend einstufte.

«Unter dem alten wie auch unter dem neuen Recht bleibe straflos, wer eine ehrverletzende Schrift nur verbreite.»

Nichtsdestotrotz sprach es all jene Beteiligten frei, die sich auf das Plakatieren beschränkt hatten. Unter dem alten wie auch unter dem neuen Recht bleibe straflos, wer eine ehrverletzende Schrift nur verbreite. Der Buchhändler, Kioskmitarbeiter oder Zeitungsverkäufer, aber auch wer Traktate verteile oder Plakate klebe, der Briefträger usw., sie alle seien von Art. 28 StGB geschützt, der nur den Autor für strafbar erkläre. Das Privileg gelte nicht nur für Angestellte eines Medienunternehmens. Auch als Anstifter, Gehilfe oder Mittäter komme nur in Frage, wer nicht Teil der Herstellungs- und Verbreitungskette eines Medienerzeugnisses sei (BGE 128 IV 53, insb. E. 5e, S. 66 ff.).

4.2.3 Ehrverletzungsdelikte in der Variante des Weiterverbreitens

In den zusammengefassten Entscheiden ist vor allem davon die Rede, dass Art. 28 StGB an die Stelle der allgemeinen Regeln über die Gehilfenschaft, die Anstiftung und die Mittäterschaft (Art. 24 ff. StGB) trete. Das ist nicht alles. Die Bestimmungen über die Üble Nachrede und die Verleumdung machen das Weiterverbreiten ehrenrühriger Behauptungen oder Verdächtigungen zu einem eigenständigen Delikt (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Art. 174 Ziff. 1 Abs. 2 StGB).

Die vom Bundesgericht beispielhaft zitierten Plakatkleber, Kioskmitarbeiter usw. erfüllen den Tatbestand des Weiterverbreitens regelmässig. Nichtsdestotrotz erklärte das Bundesgericht, die Plakatkleber blieben straflos. Art. 28 StGB schützt demnach nicht nur, soweit es um Anstiftung, Gehilfenschaft oder Mittäterschaft geht. Auch die zum eigenständigen Delikt ausgestaltete Teilnahme durch Weiterverbreiten ist mit Art. 28 StGB von der Strafbarkeit ausgenommen, solange sich die Täter innerhalb der für das Medium typischen Herstellungs- und Verbreitungskette bewegen. Davon geht auch das Bundesgericht aus.

4.3 Twitter als Medium

4.3.1 Sprachgebrauch

Für Twitter, Facebook, Google+ und ähnliche Plattformen ist sowohl der englische Ausdruck ‹social media› als auch dessen eingedeutschte Variante gebräuchlich. Mit dem Wortlaut von Art. 28 StGB ist es vereinbar, Veröffentlichungen auf Twitter dieser Regelung zu unterstellen.

4.3.2 Entstehung der heutigen Fassung von Art. 28 StGB

«Die Entstehungsgeschichte […] spricht […] dafür, Twitter als Medium zu behandeln.»

Als die heutige Fassung von Art. 28 StGB entstand, hatte das Internet bei Weitem noch nicht die heutige Bedeutung. Twitter gab es noch nicht. Der historische Gesetzgeber hatte vor allem Radio und Fernsehen vor Augen, wollte aber eine Regelung schaffen, die alle Medien gleich behandelt. Die Botschaft des Bundesrates erwähnt das Internet denn auch in einem Atemzug mit in Vergessenheit geratenen Kommunikationsformen wie Teletext und Videotex (BBl 1996 IV 527). Der Gesetzgeber wählte das farblose, umfassende Wort ‹Medium›, wo er auch hätte ‹Radio und Fernsehen› schreiben können.

Die Entstehungsgeschichte der heutigen Fassung von Art. 28 StGB ist nicht ausschlaggebend, spricht aber eher dafür, Twitter als Medium zu behandeln.

4.3.3 Stellung von Art. 28 StGB im gesamten Regelsystem

Zugleich mit der Neuregelung der Mediendelikte hat das Parlament den Quellenschutz geregelt (heute: Art. 28a StGB und Art. 172 StPO). Auch um zu entscheiden, wie weit der Quellenschutz geht, hatte sich das Bundesgericht damit zu befassen, was ein Medium bzw. ein periodisch erscheinendes Medium ist:

«Twitter und ein Blog auf einer Website sind vergleichbar.»

Die Täterin nutzte die Kommentarfunktion auf der Website des Schweizer Radio und Fernsehens (SRF), um unter dem Pseudonym ‹Michael Schwizer› launige Kommentare abzugeben, die ein ehemaliger Arbeitskollege als Anspielung auf ihn erkannte und für ehrverletzend hielt. Das Bundesgericht stellte ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Art. 28 StGB (Strafbarkeit von Veröffentlichungen) und Art. 28a StGB (Quellenschutz) her und schützte das Schweizer Fernsehen. Es hatte sich geweigert, den Namen der Bloggerin preiszugeben. Auch die Kommentarfunktion der Website des Schweizer Fernsehens sei ein Medium bzw. Teil eines Mediums (zum Ganzen: BGE 136 IV 145, E. 3.2 und 3.3, S. 149 f.; Urteil Nr. GG110138-L des Bezirksgerichts Zürich vom 30. September 2011).

Twitter und ein Blog auf einer Website sind vergleichbar. Der Begriff ‹Medium› in Art. 28 StGB und Art. 28a StGB/Art. 172 StPO ist einheitlich auszulegen. Das legt es nahe, Twitter genau so wie einen Blog auf der Website des Schweizer Fernsehens als Medium im Sinne von Art. 28 StGB zu behandeln.

4.3.4 Schutz öffentlicher Debatten als Regelungszweck von Art. 28 StGB

Die deutliche Begrenzung des Personenkreises, der sich durch eine Veröffentlichung strafbar machen kann, dient dem freien Austausch der Meinungen, wie er auch durch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt ist (Art. 16 f. BV; Art. 10 EMRK). Dieser Regelungszweck spricht für den Einbezug von Twitter.

Der Tweet, um den es hier geht, bezog sich auf politisch relevante Debatten. Sowohl die Hintergründe und Begleitumstände des Rücktritts eines Nationalbankpräsidenten, als auch die Frage, was ein Politiker mit der Domain adolf-hitler.ch zu tun hat, sind ein legitimer Gegenstand öffentlicher Diskussion.

«Der Kurz­nachrichten­dienst Twitter […] ist ein Medium im Sinne von Art. 28 StGB.»

Selbstverständlich dient Twitter auch dem Austausch von Banalitäten, privatem Klatsch und Tratsch oder rein organisatorischer Informationen über Vereinsanlässe und dergleichen. Darauf ist Twitter aber nicht beschränkt. Zahlreiche Politiker, Unternehmen, Behörden, Parteien usw. nutzen Twitter, um sich Gehör zu verschaffen. Den überzeugendsten Beleg für die meinungsbildende Funktion von Twitter lieferten die Mächtigen der Volksrepublik China. Sie blockierten den Dienst einige Tage bevor sich die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum zwanzigsten mal jährte. Twitter ist bis heute nur in Hong Kong und Macao problemlos zugänglich.

Twitter dient dem freien Austausch von Informationen und Meinungen und ist deshalb ein Medium im Sinne von Art. 28 StGB.

4.3.5 Missbrauchsgefahren

«Auf die Gefahren eines Missbrauchs strafloser Retweets ist […] einzugehen.»

Art. 28 StGB hat allerdings nicht zum Zweck, folgenlose Ehrverletzungen für jedermann zu ermöglichen oder das Internet zum rechtsfreien Raum zu machen. Auf die Gefahren eines Missbrauchs strafloser Retweets ist deshalb einzugehen.

Es ist denkbar, dass sich der Verfasser ehrverletzender Texte hinter einem Retweet versteckt und in Tat und Wahrheit selbst für den ursprünglichen Tweet auf einem anonymen Account oder dem Account einer Person im Ausland sorgt. Technisch ist das einfach zu bewerkstelligen.

Recht schwierig ist es jedoch, eine derartige Fälschung überzeugend aussehen zu lassen. Ein kurz vor einem ehrverletzenden Retweet eröffneter anonymer Account mit wenigen Followern und einigen pro forma Tweets wird Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht überzeugen. Freunde im Ausland müsste ein Täter erst überzeugen, sich für so etwas herzugeben, und meist ist es auch nicht plausibel, weshalb sich plötzlich eine Person aus der Ferne einmischt.

Wer sich auf Twitter mit Verbalinjurien eindeckt, hat meist eine Vorgeschichte im realen Leben. Auch jene Bloggerin, deren Blogs zu BGE 136 IV 145 führten, konnte die Untersuchungsbehörde trotz Quellenschutz ausfindig machen. Privatkläger und Angeklagte hatten eine langwierige Vorgeschichte, die von Konflikten am ehemals gemeinsamen Arbeitsplatz geprägt war. Aufgrund des Inhalts der anonymen Blogs war klar, von wem sie stammen mussten (vgl. zum Nachspiel von BGE 136 IV 145: Urteil Nr. GG110138-L des Bezirksgerichts Zürich vom 30. September 2011). Das ist typisch, denn das reine Cybermobbing ist selten. Es sind dieselben Personen, die ihre Opfer online und offline schikanieren.

Gelegentlich wird es Tätern gelingen, dank solcher Tricks anonym zu bleiben, so wie auch nicht jeder Diebstahl und bei weitem nicht jede Verkehrsregelverletzung aufgeklärt wird. Die Missbrauchsrisiken sind jedoch überschaubar. Es gibt sie auch andernorts im Internet, etwa in den Kommentarfunktionen, die das Bundesgericht dem Quellenschutz unterstellt, und bei den althergebrachten, papierenen Formen der Kommunikation. Das kann nicht dazu führen, Twitter trotz gegebener Voraussetzungen abzusprechen, ein Medium zu sein.

4.3.6 Wirksamer Persönlichkeitsschutz im Zivilrecht

«Die zivilrechtlichen Folgen einer Persönlichkeits­verletzung […] sind als Anreiz für korrektes Verhalten im Internet mindestens so wirksam wie eine bedingte Geldstrafe.»

Hinzu kommt, dass den Betroffenen nicht allein das Strafrecht zu Gebot steht, um sich gegen ehrenrührige Retweets zu wehren. Zivilrechtlich gibt es keine Privilegierung der Herstellungs- und Verbreitungskette der Medien (BGE 128 IV 53, E. 8, S. 72 f.). Der Betroffene kann gegen jeden klagen, der an einer Persönlichkeitsverletzung mitwirkt, also auch gegen den Retweeter (Art. 28 Abs. 1 ZGB). Der Kläger kann eine Berichtigung oder die Beseitigung rechtswidriger Inhalte erwirken, zudem Schadenersatz und Genugtuung, wenn der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (Art. 28a ZGB; Art. 41 ff. OR).

Die Anwendung von Art. 28 StGB auf Retweets lässt Betroffene nicht schutzlos. Die zivilrechtlichen Folgen einer Persönlichkeitsverletzung einschliesslich der anfallenden Verfahrenskosten sind als Anreiz für korrektes Verhalten im Internet mindestens so wirksam wie eine bedingte Geldstrafe.

4.3.7 Twitter als Medium

Die Auslegung von Art. 28 StGB muss dazu führen, Twitter als Medium anzuerkennen.

4.4 Veröffentlichung in einem Medium

Fragen kann man sich jedoch, ob jeder Tweet eine ‹Veröffentlichung in einem Medium› (Art. 28 Abs. 1 StGB) ist. Technisch ist jeder Tweet [sic!] öffentlich:

Wer irgendwo auf der Welt unzensierten Zugang zum Internet hat, kann jeden Tweet abrufen, dafür braucht man nicht ‹Follower› des Verfassers zu sein, es bedarf nicht einmal eines Twitter-Accounts. Die Tweets des Privatklägers sind unter https://twitter.com/hermannlei abrufbar, jene des Beschuldigten unter https://twitter.com/crls__ und jene von ‹NewsMän› unter https://twitter.com/kuedder.

Tatsächlich von einer halbwegs breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden indes längst nicht alle Twitter-Accounts. Es ist fraglich, ob auch ein Tweet auf einem Account, der nur von den Freunden und Verwandten seines Inhabers wahrgenommen wird, eine Veröffentlichung ist. Dagegen spricht, dass bei solchen Accounts die Öffentlichkeit eher theoretisch ist. Wie mit solchen Fällen umzugehen wäre, kann jedoch offen bleiben.

«Jedenfalls eine Kurznachricht (Tweet) auf einem Account, der nicht nur von Angehörigen und Bekannten seines Inhabers beachtet wird, ist eine Veröffentlichung im Sinne von Art. 28 StGB»

Der Politologe Claude Longchamp hat auf seinem Blog eine Laudatio auf ‹NewsMän› verfasst, und dieser hat eine vierstellige Zahl von Followern. Das sind weit mehr, als Familie, Freunde und Bekannte, auch bei einer gut vernetzten Person. ‹NewsMän› verschafft sich mit seinen Tweets mindestens so viel Gehör und Öffentlichkeit wie jene engagierten Bürger, die in den vierziger Jahren mit Schreibmaschine und Matrize zweihundert Broschüren herstellten. Seine Tweets sind auch dann eine Veröffentlichung im Sinne von Art. 28 StGB, wenn man darauf abstellt, ob ein Account tatsächlich von der Öffentlichkeit beachtet wird.

4.5 Medientypische Verbreitungskette

«Das Weiterleiten eines ehrenrührigen Tweets (Retweet) ist Teil der für Twitter typischen Verbreitungskette und daher kraft des Privilegs von Art. 28 StGB straflos.»

Von der Strafbarkeit ausgenommen ist nur das Weiterverbreiten ehrenrühriger Äusserungen innerhalb der medienspezifischen Verbreitungskette (vgl. auch ZELLER, a.a.O., N 57 ff. zu Art. 28 StGB). Bei den seit vielen Jahren gebräuchlichen Methoden, sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, ist ziemlich klar, was damit gemeint ist. Abgesehen von BGE 128 IV 53 war das kaum je Gegenstand höchstrichterlicher Entscheide. Hier stellt sich die Frage, ob der Retweet zu der für Kurznachrichten auf Twitter typischen und üblichen Verbreitungskette gehört.

4.5.1 Konzept und Geschäftsmodell von Twitter

Die Betreiber von Twitter haben es darauf angelegt, dass die Nutzer Kurznachrichten weiterverbreiten. Ein Klick oder ein Antippen des Touchscreens genügt. Ein Stück weit leben die sozialen Medien davon, dass die Nutzer die Inhalte auswählen. Was vielen lesenswert erscheint, wird auch über mehrere Accounts weitergeleitet (‹retweetet›) und vielen Nutzerinnen und Nutzern im eigenen Account angezeigt. Anderes bleibt zwar theoretisch von mehr als einer Milliarde Menschen abrufbar, wird aber nur auf den Accounts der Follower des ursprünglichen Verfassers angezeigt und auch dort bald von neueren Tweets nach unten verdrängt.

«Das Retweeten ist Teil des Konzepts von Twitter […].»

Diese Auswahl der Inhalte durch die Nutzer und die Verknüpfung der Nutzer untereinander ist auch aus kommerziellen Gründen gewollt. Twitter verdient Geld mit Werbeeinblendungen und mit dem Verkauf von Daten. Bestimmte Inserenten bezahlen Twitter nach Massgabe der Anzahl Retweets ihrer Anzeige. Auch die Analyse der verkauften Daten durch Dritte wird ergiebiger, wenn ersichtlich ist, wer wessen Follower ist und wer was favorisiert, ignoriert oder wer was an welchen Personenkreis retweetet (zum Ganzen: VINDU GOEL, For Twitter, Key to Revenue Is No Longer Ad Simplicity, New York Times vom 17. September 2013, S. B1).

Das Retweeten ist Teil des Konzepts von Twitter und auch wichtig für dessen kommerziellen Erfolg. Es ist Teil der von Twitter geplanten und gewollten Verbreitungskette eines Tweets.

4.5.2 Tatsächliche Nutzung

«Retweeten ist keine Seltenheit.»

Nicht nur die Absichten der Betreiber von Twitter, auch das Verhalten der Nutzer lässt den Retweet als Teil der für Twitter typischen Verbreitungskette einer Kurznachricht erscheinen. Retweeten ist keine Seltenheit. Das zeigt ein Blick auf den Twitter-Account eines beliebigen Politikers oder Journalisten, kein anderes Bild ergibt sich bei den Accounts des Privatklägers und des Beschuldigten. Das hat sich bereits im Sprachgebrauch niedergeschlagen. Jedenfalls auf Englisch ist häufig die Rede davon, ein Text, ein Bild oder ein Video habe sich wie ein Virus auf den sozialen Medien ausgebreitet (‹It went viral.›). Das Bild des Virus, der sich von Träger zu Träger ausbreitet, konnte nur entstehen, weil die Nutzer der sozialen Medien Inhalte tatsächlich eifrig weiterleiten. Das gilt auch für die Twitterer.

4.5.3 Parallelen bei althergebrachten Kommunikationsformen

Bei Zeitungen und Zeitschriften hat die Weiterverbreitung durch Leserinnen und Leser kaum eine Bedeutung. Zeitungen kommen über bezahlte Mitarbeiter eines Kiosk zu den gelegentlichen Leserinnen und Lesern und über bezahlte Verträgerinnen zu den Abonnenten. Sicher kommt es gelegentlich vor, dass Leser Zeitungen weiter verbreiten, indem sie diese im Zug liegen lassen oder indem sich Nachbarn gegenseitig Tages-Anzeiger und NZZ in den Briefkasten legen, damit nicht beide beides abonnieren müssen. Das ist aber weder entscheidend für den geschäftlichen Erfolg einer Zeitung, noch ist es zahlenmässig bedeutsam. Auf all das kann es jedoch nicht ankommen.

Jahrzehnte vor dem Internet hat das Bundesgericht klargestellt, dass unerheblich ist, ob jemand berufsmässig oder privat handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob jemand ein professionelles Medienprodukt verbreitet oder ein nach Feierabend mit einfachen Mitteln hergestelltes, laienhaftes Werk.

Der Retweet ist durchaus vergleichbar mit dem Wirken jener Personen, die im Rahmen der Plakataktion der CVP im Unterwallis Plakate geklebt haben. Auch sie kannten die verbreiteten Inhalte. Sie handelten aus freien Stücken, nicht weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdienten, und sie erreichten die Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass es bedeutend mehr Identifikation mit einem Inhalt und Engagement braucht, um Plakate zu kleben als um Tweets per Mausklick weiterzuleiten. Wäre das strafbar, würden die Gerichte von bedeutend höherer krimineller Energie sprechen. Jene Wertungen, die in BGE 128 IV 53 zu Freisprüchen führten, sprechen für die Straflosigkeit des Retweets.

4.5.4 Retweet als Teil der medientypischen Verbreitungskette

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Retweet ein Glied der für Kurznachrichten auf Twitter typischen, üblichen und von den Betreibern gewollten Verbreitungskette ist. Das Retweeten einer ehrenrührigen Kurznachricht muss deshalb gestützt auf Art. 28 Abs. 1 StGB straflos bleiben, obwohl es den Tatbestand des Weiterverbreitens im Sinne von Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB (Üble Nachrede) bzw. Art. 174 Ziff. 1 Abs. 2 StGB (Verleumdung) erfüllt.

4.6 Mediendelikt

«Das Privileg von Art. 28 StGB greift nicht bei Rassendiskriminierung, harter Pornographie oder Gewaltdarstellungen.»

Die Privilegierung der medienspezifischen Verbreitungskette greift nur bei Straftaten, die sich in der strafbaren Veröffentlichung erschöpfen (Art. 28 Abs. 1 StGB). Das ist bei Ehrverletzungsdelikten der Fall, um sie ging es in allen zitierten Bundesgerichtsurteilen zu Art. 28 StGB. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Bundesgericht Art. 28 StGB nicht auf Rassendiskriminierung, harte Pornographie oder Gewaltdarstellungen anwendet. Das wäre mit dem Wortlaut, aber nicht mit dem Zweck von Art. 28 StGB vereinbar (BGE 125 IV 206, E. 3c, S. 211f.).

4.7 Redaktor oder für die Veröffentlichung verantwortliche Person?

Da die Identität von ‹NewsMän› bis heute nicht bekannt ist, stellt sich die Frage, ob der Beschuldigte als verantwortlicher Redaktor oder für die Veröffentlichung des Tweets verantwortliche Person nach Art. 322bis StGB zu bestrafen ist. Der Beschuldigte ist nicht der Redaktor von ‹NewsMän› und er hatte auch keinen Einfluss auf den Entscheid von ‹NewsMän›, einen Tweet mit der Bezeichnung ‹Hermann ‹Dölf› Lei› abzusetzen. Der Tweet war bereits öffentlich, als der Beschuldigte ihn auf seinem eigenen Twitter-Account angezeigt erhielt.

Ein Schuldspruch wegen der Nichtverhinderung einer strafbaren Veröffentlichung würde den Wortlaut von Art. 322bis StGB überdehnen. Der Beschuldigte war nicht in einer Position, in welcher er die Veröffentlichung von ‹NewsMän› hätte verhindern können.

«Der Twitter-Account einer Einzelperson hat keinen vom Autor verschiedenen Redaktor und keine andere für die Veröffentlichung verantwortliche Person im Sinne von Art. 322bis StGB».

Bei einem Twitter-Account dürfte es nur ausnahmsweise einen vom Autor der Tweets verschiedenen Redaktor oder eine andere, für die Veröffentlichung verantwortliche Person als den Autoren selbst geben. In der Regel veröffentlicht der Autor im Alleingang durch einen Mausklick. Anders verhält es sich bei jenen Twitter-Accounts, hinter denen ein ganzes Team steht. Bei einem Twitter-Account eines Unternehmens, einer Behörde, einer Partei usw. kann es durchaus eine Redaktion bzw. einen Verantwortlichen geben. Ob ‹NewsMän› eine Einzelperson ist oder ob ein ganzes Team hinter dem Account steht, ist nicht bekannt. Jedenfalls wirft die Anklage dem Beschuldigten nicht vor, Teil eines solchen Teams zu sein, und es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass es so wäre.

4.8 Freispruch

Der Beschuldigte ist nicht der Autor der Bezeichnung ‹Hermann ‹Dölf› Lei›. Er ist von Schuld und Strafe freizusprechen, weil er sich mit seinem Retweet innerhalb der für einen Tweet typischen Verbreitungskette bewegt hat.

5. Zivilansprüche

Anders als nach der Zürcher Strafprozessordnung entscheidet das Gericht heute auch bei einem Freispruch über Zivilansprüche, wenn der Sachverhalt spruchreif ist (Art. 126 Abs. 1 lit. b StPO). Der Sachverhalt, auf den es ankommt, steht fest und die Parteien bestreiten ihn nicht. Über die Zivilansprüche des Privatklägers ist zu urteilen.

5.1 Zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz

Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen (Art. 28 Abs. 1 ZGB). Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB).

5.1.1 Persönlichkeitsverletzung

Der Schutz der Persönlichkeit durch das Zivilrecht geht einiges weiter als der strafrechtliche Schutz der Ehre. Während des Strafrecht nur bei Aussagen greift, die den Geschädigten als charakterlich anständigen Menschen in Frage stellen, kann eine zivilrechtliche Persönlichkeitsverletzung auch Fragen betreffen, die um die Qualitäten eines Menschen im Beruf kreisen, etwa als Politiker, Handwerker, Unternehmer, Wissenschaftler oder dergleichen.

Vorwürfe, ein Anhänger des Nationalsozialismus zu sein oder nur schon das Wirken jenes Regimes zu verharmlosen, sind auch strafrechtlich relevant. Dass derartige Vorwürfe auch eine zivilrechtliche Persönlichkeitsverletzung sind, bedarf keiner näheren Erläuterung (BGE 129 III 49, E. 2.3; BGE 111 II 209). Detailliert zu prüfen ist jedoch, ob sich ein derartiger Vorwurf rechtfertigen lässt und ob ihn der Beschuldigte überhaupt erhoben hat.

5.1.2 Rechtfertigung durch überwiegendes öffentliches Interesse

Der Privatkläger ist zumindest zur relativen Person der Zeitgeschichte geworden, indem er eine wichtige Rolle gespielt hatte bei der Weiterleitung von Verdachtsmomenten auf Insidergeschäfte, die zum Rücktritt des damaligen Präsidenten der Nationalbank führten. Er übt auch heute öffentliche Ämter aus. Bei aktiven Politikern sind sogar politische Aktivitäten, die Jahrzehnte zurück liegen, legitimer Gegenstand öffentlicher Diskussion (BGE 111 II 209, insb. E. 3c, S. 213 f.). In einem Zeitungsartikel der Frage nachzugehen, was der Privatkläger mit der Domain adolf-hitler.ch zu tun hat, war rechtens.

«[Der Privatkläger] kann aber sehr wohl verlangen, dass der Beschuldigte darüber nichts Unwahres veröffentlicht.»

Angesichts seiner Rolle beim Rücktritt des SNB-Präsidenten, aber auch, weil er damals wie heute dem Kantonsrat des Kantons Thurgau angehörte, bestand ein legitimes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (vgl. BGE 127 III 481, E. 2c/aa und E. 2c/bb, S. 488 ff.). Der Privatkläger kann nicht verlangen, dass der Beschuldigte darüber nichts veröffentlicht. Er kann aber sehr wohl verlangen, dass der Beschuldigte darüber nichts Unwahres veröffentlicht. Falschmeldungen sind nur ganz ausnahmsweise durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt (BGE 129 III 49, E. 2.2, S. 51 f.).

5.2 Ergebnis der Recherchen des Beschuldigten

Wäre der Privatkläger ein Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus, dann dürfte man das auch öffentlich sagen und die Diskussion darüber, was mit der Bezeichnung ‹Hermann ‹Dölf› Lei› gemeint sei, würde sich erübrigen. Es ist deshalb kurz darauf einzugehen, was die Recherchen des Beschuldigten ergeben haben und was nicht:

5.2.1 Inhalte auf adolf-hitler.ch

‹www.adolf-hitler.ch› war nie eine Propagandaseite. W., ein Klient des Beschuldigten, bestimmte, was dort zu sehen war. Er sprach mit dem Beschuldigten und sagte ihm, er habe bewusst nur den Wikipedia-Artikel über Adolf Hitler aufgeschaltet. W. zeigte dem Beschuldigten ein Kündigungsschreiben eines Webhosting-Unternehmens. Es wollte die von W. betriebenen Seiten nicht mehr aufschalten. Dieses Unternehmen beanstandete andere, von W. betriebene Internet-Adressen als ehrverletzend. Die Inhalte von ‹adolf-hitler.ch› bezeichnete es dagegen als rechtlich nicht relevant, doch errege die Domain nur schon aufgrund ihres Namens Aufsehen. Das Webhosting-Unternehmen fürchtete um seinen Ruf und wollte nichts mit adolf-hitler.ch zu tun haben.

Das Kündigungsschreiben belegt, dass die Auskünfte von W. korrekt waren. Das Webhosting-Unternehmen hätte die Inhalte nicht als unbedenklich bezeichnet, wenn es sich um Nazi-Propaganda gehandelt hätte. W. erklärte dem Beschuldigten, er registriere über die X. AG eine vierstellige Anzahl von Internet-Adressen. Er bzw. die X. AG würden damit Geld verdienen, dass sie dort Werbung aufschalten. Adolf Hitler werde oft gegoogelt. Die Domain adolf-hitler.ch war eine kommerziell motivierte Geschmacklosigkeit, mehr aber nicht.

5.2.2 Kontrolle über adolf-hitler.ch

Die Verbindung von adolf-hitler.ch zum Privatkläger besteht darin, dass der Privatkläger im Jahr 2010 die X. AG gegründet hat und nach der Gründung ein halbes Jahr lang deren einziger Verwaltungsrat war. Dann wurde W. einziger Verwaltungsrat, das ist er bis heute. Die X. AG hatte ihr Domizil von der Gründung bis im Jahr 2013 beim Anwaltsbüro des Privatklägers. Dann verlegte die X. AG ihren Sitz. All das ergibt sich aus den Handelsregistern der jeweiligen Sitzkantone.

Das Kündigungsschreiben an W. im März 2009 zeigt, dass er die Domain adolf-hitler.ch bereits beherrschte, bevor der Privatkläger die X. AG für ihn gegründet hat. Dass die Stiftung SWITCH auf ihrer Website noch im Sommer 2012 als Halter der Domain ‹X. AG Hermann Lei› angab, war zumindest missverständlich. Einziger Verwaltungsrat der X. AG war damals bereits seit gut zwei Jahren W. Die X. AG hatte lediglich ihr Domizil beim Anwaltsbüro des Klägers. Das bedeutet im Wesentlichen, dass jedermann der X. AG Mitteilungen rechtsgültig an die Büroadresse des Privatklägers zustellen konnte. Dass der Privatkläger die Domiziladresse zur Verfügung stellte, bedeutet aber nicht, dass er in der X. AG das Sagen hatte.

«Aus der Verbindung des Privatklägers zu adolf-hitler.ch lässt sich nicht der Schluss ziehen, er sei ein Neonazi, Revisionist oder dergleichen.»

Eine weiter gehende Verbindung des Privatklägers zu adolf-hitler.ch haben die Recherchen des Beschuldigten nicht zu Tage gefördert. Selbstverständlich sind die geschäftlichen Aktivitäten eines Politikers legitimer Gegenstand öffentlicher Debatte. Dass der Privatkläger als Verwaltungsrat und später als Domiziladresse für eine Aktiengesellschaft wirkte, die sich aus kommerziellen Gründen eine Geschmacklosigkeit mit der Domain adolf-hitler.ch leistete, durfte der Beschuldigte veröffentlichen. Deren Urheber war jedoch W., nicht der Privatkläger. Aus der Verbindung des Privatklägers zu adolf-hitler.ch lässt sich nicht der Schluss ziehen, er sei ein Neonazi, Revisionist oder dergleichen.

5.2.3 Umfeld des Privatklägers

Der Artikel hat auch ergeben, dass W. auf zahlreichen Blogs Ansichten vertritt, die sich rechts vom bürgerlichen Mainstream bewegen. W. unterhielt offenbar auch einen Blog, der die damalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey verunglimpfte. Der Rechtsdienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wandte sich deswegen an W., der Privatkläger kritisierte diese Intervention in der Zeitung Schweizerzeit als ‹massiven Einschüchterungsversuch›. Der Artikel erwähnt weiter, dass der Privatkläger einen Politiker der Schweizer Demokraten vor Gericht verteidigte. Dieser hatte sich wegen Rassendiskriminierung zu verantworten, weil er in der Parteizeitung [gemeint wohl: der Schweizer Demokraten] gefordert hatte, keine Muslime einzubürgern.

Die Recherchen haben ergeben, dass sich im Umfeld des Privatklägers Personen befinden, die prononciert rechts denken und sich auch öffentlich so äussern. Das macht weder den Privatkläger, noch W. oder den vom Privatkläger verteidigten Politiker zu Anhängern oder Verharmlosern des Nationalsozialismus.

5.2.4 Zusammenfassung

«Der Privatkläger ist kein Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus.»

Der Privatkläger ist kein Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus. Die Recherchen des Beschuldigten haben dafür keine ernsthaften Anhaltspunkte zu Tage gefördert. Dass der Privatkläger Positionen rechts des bürgerlichen Mainstreams vertritt, ändert daran nichts. Der Beschuldigte will denn auch keinen entsprechenden Vorwurf erhoben haben. Er sieht in der Bezeichnung ‹Dölf›, die er weitergeleitet hat, lediglich einen Hinweis auf die Angelegenheit mit der Hitler-Domain.

5.3 Wirkung auf den ‹Durchschnittsleser› als Massstab

5.3.1 Die Figur des Durchschnittslesers und ihre Fragwürdigkeit

Bei Veröffentlichungen, die von mehr als einer Hand voll Personen wahrgenommen werden, lässt sich nicht bei jedem einzelnen Leser feststellen, wie er einen Text tatsächlich verstanden hat. Ausschlaggebend ist, wie ein ‹Durchschnittsleser› die fragliche Äusserung versteht. Mit einzubeziehen ist der gesamte Kontext der fraglichen Äusserung (zum Ganzen: BGE 127 III 481, E. 2b/aa, S. 487, mit weiteren Hinweisen).

Zahlreiche Medienjuristen kritisieren diese Praxis. Die Frage, wie diese oder jene Äusserung auf den durchschnittlichen Leser wirke, lasse sich nicht aufgrund der Lebenserfahrung beurteilen, dafür sei eine vertiefte argumentative Auseinandersetzung wenn nicht gar eine Publikumsbefragung notwendig (vgl. act. 32 S. 6f. und MISCHA CHARLES SENN, Der ‹gedankenlose› Durchschnittsleser als normative Figur?, medialex 1998 S. 150ff.).

«Publikumsbefragungen zur Ermittlung der Auffassung des Durchschnittslesers verlagern das Problem, anstatt es zu lösen.»

Sicherlich sollen die Gerichte nicht einfach apodiktisch erklären, der Durchschnittsleser verstehe einen Text so und nicht anders. Die Gerichte sollen sich so konkret wie möglich damit auseinandersetzen, wer eine Veröffentlichung wahrgenommen hat, welches Vorwissen die Adressaten haben und welche Schlüsse sie ziehen. Publikumsbefragungen an die Stelle richterlicher Überlegungen treten zu lassen, würde das Problem aber nur verlagern:

Würde man Versuchspersonen etwa den fraglichen Retweet vorlegen, müsste das Gericht oder ein Gutachter ja auch auswählen, was für Versuchspersonen repräsentativ für die Follower des Beschuldigten oder jene von ‹NewsMän› sind. Ferner wäre zu entscheiden, ob die Versuchspersonen den WoZ-Artikel vorher zum Lesen erhalten oder nicht. Solch teuren Abklärungen mit zweifelhaftem Beweiswert haben sich die Gerichte hierzulande stets mit gutem Grund widersetzt.

5.3.2 Adressatenkreis des Retweets

«Die wenigsten Twitterer schauen systematisch alles an, was sich seit dem letzten Blick auf ihren Account getan hat.»

Der Beschuldigte hat den Tweet von ‹NewsMän› an seine eigenen Follower weitergeleitet. Dass damals rund 1500 Twitterer Follower des Beschuldigten waren, verleitet dazu, die Reichweite des Retweets zu überschätzen. Die wenigsten Twitterer schauen systematisch alles an, was sich seit dem letzten Blick auf ihren Account getan hat. Die meisten werfen nur einen Blick auf die neuesten Meldungen auf ihrem Account, ohne zu den älteren hinunterzuscrollen. Wer vielen Personen folgt, muss seinen Account genau im richtigen Moment anschauen, um die Meldung des Beschuldigten überhaupt wahrzunehmen. Auch sind längst nicht alle, die sich irgendwann einmal bei Twitter registriert und die Tweets des Beschuldigten verfolgt haben, aktive Nutzer.

Es ist gut möglich, dass nur eine Hand voll oder nur ein paar Dutzend Follower des Beschuldigten den fraglichen Retweet wahrgenommen haben. Allerdings dürften diese sich nicht gross von den restlichen Followern unterscheiden. Es lässt sich höchstens sagen, dass jene Twitterer, die den Retweet tatsächlich wahrgenommen haben, im Zweifel eher zu den interessierteren und zu jenen gehören, die häufig auf ihren Twitter-Account schauen.

Der Beschuldigte hatte damals bereits weit mehr Follower, als durch Familie, Freunde und Bekannte zu erklären sind. Die meisten dürften Leserinnen und Leser sein, die seine Arbeit als Journalist schätzen, ohne ihn persönlich zu kennen. Solche Follower haben ein überdurchschnittliches Interesse am Zeitgeschehen. Eine gewisse Überschneidung dürfte der Kreis der Follower des Beschuldigten auch mit dem Kreis der Leserinnen und Leser der WochenZeitung haben. Dort publiziert der Beschuldigte am meisten, so dass die meisten Follower beim Lesen der WoZ begonnen haben, sich für seine Arbeit zu interessieren, und dann begonnen haben, ihm auf Twitter zu folgen. Damit ist noch immer recht wenig über den Kreis der Follower des Beschuldigten bekannt. Es dürfte sich mehrheitlich um gut ausgebildete, überdurchschnittlich am Zeitgeschehen interessierte und politisch eher links stehende Leserinnen und Leser handeln.

5.3.3 Hermann ‹Dölf› Lei in den Augen der Follower des Beschuldigten

Wer von der ganzen Angelegenheit um die Hitler-Domain noch nie etwas gehört oder alles bereits wieder vergessen hat, für den ist die Bezeichnung ‹Hermann ‹Dölf› Lei› unverständlich. Die einzige Persönlichkeit, die in den Medien regelmässig unter der Bezeichnung ‹Dölf› erscheint, ist alt Bundesrat Adolf Ogi, der mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun hat.

Wer die Fakten rund um die Hitler-Domain ganz genau vor Augen hat, der wird in der Bezeichnung ‹Dölf› lediglich eine Anspielung auf die vom Beschuldigten veröffentlichte Angelegenheit erblicken. Die Bezeichnung hätte dann etwa die Bedeutung ‹Hermann Lei, der mit der Geschichte um adolf-hitler.ch›. Wer vor Augen hat, dass die Verbindung des Privatklägers zur Domain adolf-hitler.ch weit loser ist, als der erste Anschein vermuten lässt und dass es sich dabei nicht um eine Propaganda-Seite gehandelt hat, der wird in der Bezeichnung ‹Dölf› nicht den Vorwurf erblicken, der Privatkläger sei ein verkappter Neonazi.

Diese beiden Extreme, überhaupt kein Vorwissen oder alle Fakten exakt vor Augen, dürften jedoch beide nicht das Vorwissen des durchschnittlichen Followers des Beschuldigten wiedergeben. Die meisten, die sich für die Arbeit des Beschuldigten interessieren, dürften die Geschichte um adolf-hitler.ch mitbekommen haben. Der Artikel lag allerdings bereits einen Monat zurück.

Auch im Kopf von gebildeten Menschen mit regem Interesse an Politik verdrängen neuere Ereignisse rasch, was vor einem Monat aktuell war. Zudem lesen die wenigsten Menschen alle Artikel einer Zeitung, die sie abonniert haben vom Anfang bis zum Ende. Aus diesem Grund kann sogar ein missverständlicher Titel rechtswidrig sein, selbst wenn man bei der Lektüre des ganzen Artikels ein korrektes Bild erhält (vgl. BGE 137 IV 313, E. 2.1.3., S. 315 f. und die dort zitierten Entscheide).

Das Vorwissen des Durchschnittslesers dürfte sich deshalb darauf beschränken, dass ‹irgendetwas war mit dem Privatkläger und adolf-hitler.ch›, ohne ganz genau im Gedächtnis abrufen zu können, worin die Verbindung zwischen dem Privatkläger und adolf-hitler.ch genau bestand. Der Beschuldigte kommentierte die Fakten sinngemäss so, dass sich kein Nachweis dafür erbringen lasse, der Privatkläger sei ein Anhänger oder Verharmloser des Nationalsozialismus, die ganze Geschichte werfe aber viele offene Fragen auf, zu denen sich der Privatkläger bedeckt halte. Wer diesen Grundtenor des Artikels noch vor Augen hat, nicht aber die detaillierte Herleitung dieser Einschätzung, der ist durchaus geneigt, ‹Hermann ‹Dölf› Lei› als ‹Hermann Lei, der verkappte Neonazi› zu lesen. Dies erst recht, da der Kreis der Follower des Beschuldigten im Durchschnitt einem Politiker am rechten Rand der SVP wenig Wohlwollen entgegenbringen dürfte.

Es ist nochmals zu betonen, dass eine detaillierte und in den Fakten korrekte Darstellung der Verbindung des Privatklägers zu adolf-hitler.ch zulässig war. Die Verkürzung dieser Diskussion zum Namenszusatz ‹Dölf› einen Monat später, als nicht mehr alle Fakten in allen Köpfen präsent waren, verletzte jedoch die Persönlichkeit des Privatklägers. Im Kontext des einen Monat zuvor erschienen Artikels des Beschuldigten ist der Zusatz als ‹der verkappte Neonazi› zu deuten, nicht bloss als ‹der mit der Hitler-Domain›.

5.4 Rechtsfolgen der Persönlichkeitsverletzung

5.4.1 Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts

«Bei einer Persönlichkeitsverletzung durch einen Retweet kommt neben Geld auch eine Richtigstellung oder Urteilsveröffentlichung durch einen neuen Tweet als andere Form der Genugtuung in Frage.»

Als Folge einer Persönlichkeitsverletzung kann das Gericht jeden, der daran mitgewirkt hat, verpflichten, eine Berichtigung oder das Urteil zu veröffentlichen (Art. 28a Abs. 2 ZGB). Das Gericht kann ferner die Widerrechtlichkeit einer Persönlichkeitsverletzung feststellen (Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB). Diese Ansprüche bestehen unabhängig vom Verschulden und unabhängig von der Schwere der Persönlichkeitsverletzung.

Sofern die Schwere der Persönlichkeitsverletzung es rechtfertigt, kann das Gericht auch eine Geldsumme als Genugtuung zusprechen oder auf eine andere Art der Genugtuung erkennen (Art. 49 Abs. 1 und Abs. 2 OR). Auch eine Richtigstellung oder eine Veröffentlichung des Urteils kommt als andere Form der Genugtuung in Frage. Der Anspruch auf Genugtuung setzt neben der Schwere der Verletzung Verschulden voraus (zum Ganzen: BGE 131 III 26, E. 12.1 und E. 12.2, S. 29ff.).

«Zwischen einem rechtswidrigen Retweet und der ausgelösten Strafuntersuchung fehlt es wegen Art. 28 StGB am adäquaten Kausalzusammenhang, der freigesprochene Beschuldigte ist nicht kostenpflichtig.»

Der Privatkläger hat auf Frage des Gerichts erklärt, er könne sich auch eine andere Form der Genugtuung als Geld vorstellen. Das Gericht könnte sogar von Amtes wegen auf eine andere Form der Genugtuung erkennen (ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 4. Auflage, 2013, N 98 zu Art. 49 OR). Der Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 2 OR ist beschränkt, gerade bei Ehrverletzungen kann aber eine immaterielle Form der Genugtuung angemessener sein als Geld. Die Wahl zwischen den verschiedenen Formen der Genugtuung ist ein Ermessensentscheid, der zu begründen ist (BGE 131 III 26, E. 12.2.2, S. 31).

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Dispositiv

6. Kosten- und Entschädigungsfolgen

Wird die beschuldigte Person freigesprochen, so können ihr die Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn sie rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt hat (Art. 426 Abs. 2 StPO). Eine Kostenpflicht für unnötige Verfahren ist jedoch auch bei schuldhafter Verursachung ausgeschlossen (Art. 426 Abs. 3 lit. a StPO).

Der Beschuldigte hat die Persönlichkeit des Privatklägers durch seinen Retweet verletzt und damit rechtswidrig gehandelt. Ohne den Retweet hätte es das Strafverfahren nicht gegeben.

Dokument: Bezirksgericht Zürich, Urteil GG150250-L vom 26. Januar 2016, Dispositiv

Aufgrund von Art. 28 StGB war der Retweet jedoch kein zureichender Grund für ein Strafverfahren. Zwischen dem rechtswidrigen Retweet des Beschuldigten und dem Strafverfahren besteht ein natürlicher, aber kein adäquater Kausalzusammenhang, so dass der Beschuldigte nicht kostenpflichtig wird. Die Kosten, einschliesslich jener für das obergerichtliche Beschwerdeverfahren, sind auf die Gerichtskasse zu nehmen. Dem entsprechend ist der Beschuldigte aus der Gerichtskasse zu entschädigen (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO).

Da dem Beschuldigten keine Kosten auferlegt werden können, kann er auch nicht verurteilt werden, den Privatkläger für seinen Aufwand zu entschädigen (Art. 433 Abs. 1 lit. b StPO). Es muss mit den regulären Kosten- und Entschädigungsfolgen eines Freispruchs sein Bewenden haben.»

Bild: Pixabay / PDPics, Public Domain-ähnlich.

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