Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) behauptet, die KI-basierte Suchmaschine Perplexity AI betreibe «Datenklau» hinter den «härtesten Bezahlschranken» von Medien. Als Beispiel nennt die NZZ die Paywall der schweizerischen Regionalzeitung «Einsiedler Anzeiger».
Die NZZ liegt mit ihrer Behauptung offensichtlich falsch, wie sich einfach herausfinden lässt. Den Fehler hat die NZZ bislang nicht korrigiert.
Die Medienkonzerne in der Schweiz, organisiert im Verlegerband Schweizer Medien (VSM), haben den verständlichen Wunsch, bezahlt zu werden, wenn KI-basierte Dienste wie ChatGPT, Claude oder Perplexity AI ihre Inhalte übernehmen.
Die Medienkonzerne fordern deshalb mit einer gezielten Kampagne ein kostenpflichtiges Leistungsschutzrecht für KI-basierte Dienste, nachdem sie bereits eine «Linksteuer» für Social-Media-Plattformen und Suchmaschinen gefordert hatten.
Ausgangslage: Ständerätin Petra Gössi verbringt einen halben Tag bei der NZZ

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) lud im Sommer 2024 die FDP-Ständerätin Petra Gössi ein, um sie einen «Selbstversuch» mit KI-basierten Diensten durchführen zu lassen. Gössi verbrachte dafür am 22. August 2024 einen halben Tag als Gast in der Redaktion der NZZ.
Der Besuch von Ständerätin Gössi war für die NZZ offensichtlich wichtig. Gastgeber waren der stellvertretende Chefredaktor Barnaby Skinner, ursprünglich Datenjournalist und Technologiereporter, und Christina Neuhaus, die langjährige Leiterin der Inlandredaktion.
Das Ergebnis der gemeinsamen Zeit mit Ständerätin Gössi veröffentlichten die beiden NZZ-Journalisten am 21. September 2024 online in einem Artikel unter dem Titel «Petra Gössi macht den Chatbot-Test: Klaut sich die KI ihre Inhalte aus Zeitungen zusammen?».
Gemäss NZZ ist Gössi «eine der wenigen Politikerinnen, die verstanden haben, wie gross die Bedrohung der Schweizer Medienberichterstattung auch durch Chat-GPT und Co. ist.» Gössi hatte mit ihrer Interpellation 24.3616 dem Bundesrat verschiedene Fragen über «Medien und künstliche Intelligenz» gestellt, unter anderem:
«Ist sich der Bundesrat bewusst, dass Bezahlschranken teilweise nicht ausreichen, um Inhalte und damit das Geschäftsmodell der Medienschaffenden zu schützen, da diese durch künstliche Intelligenz umgangen werden?»
Ihre Fragen stellte Gössi mutmasslich für den Verlegerband Schweizer Medien (VSM). Es ist üblich, dass Interessengruppen für Politikerinnen, die sie für sich gewonnen konnten, parlamentarische Vorstösse formulieren.
Behauptung: Perplexity AI betreibt «Datenklau» hinter den «härtesten Bezahlschranken»
Bei ihrem Besuch bei der NZZ lernte Ständerätin Petra Gössi auch die KI-basierte Suchmaschine Perplexity AI kennen. Perplexity AI soll, so die Kritik der NZZ, «noch weiter gehen» als das bereits kritisierte ChatGPT:
«[…] Chat-GPT von Open AI bewegt sich in einer urheberrechtlichen Grauzone. Im Dezember 2023 wurde das Unternehmen von der ‹New York Times› verklagt, weil Chat-GPT urheberrechtlich geschützte Inhalte intensiv nutzte. Perplexity, eine Konversations-Suchmaschine, die auf dem Open-AI-Modell GPT-3.5 basiert, geht noch weiter. Es klaut sich seine Informationen auch hinter den härtesten Bezahlschranken zusammen.»
Und:
«Petra Gössi macht einen sehr spezifischen Test. Sie fragt die Maschine nach der Diskussion um das Verwaltungs- und Sicherheitsgebäude Kaltbach. Die Frage, ob sich der Kanton Schwyz einen Neubau für fast 140 Millionen Franken leisten soll, beschäftigt ausserhalb des Kantons kaum jemanden. Ausser den lokalen und regionalen Medien berichtet niemand darüber.»
Das Ergebnis:
«Perplexity fackelt nicht lange. Nach wenigen Sekunden liefert die KI-Anwendung eine Zusammenfassung aller Pro- und Contra-Argumente. Die Hauptquelle ist offensichtlich der ‹Einsiedler Anzeiger›. Die Online-Inhalte der Regionalzeitung sind streng passwortgeschützt und dürften eigentlich nur zahlenden Kundinnen und Kunden zugänglich sein. Doch beinahe der gesamte Inhalt des Artikels ist in der Antwort von Perplexity zu lesen.»
Und:
«Nun ist nicht nur Petra Gössi erstaunt, auch die beiden NZZ-Journalisten sind baff. Sie sind gerade Zeugen eines Datenklaus geworden, der ihre berufliche Existenz infrage stellt. Wer soll noch für Zeitungsabonnemente zahlen, wenn man gratis oder für eine Gebühr von etwa 20 Dollar pro Monat jede Zeitung auf der Welt durchforsten kann?»
Faktencheck: Nein, Perplexity AI klaute keinen Paywall-Artikel beim «Einsiedler Anzeiger»
Ständerätin Petra Gössi und die beiden NZZ-Journalisten sind nicht «Zeugen eines Datenklaus» geworden, denn sie liegen falsch.
Der Fehler lässt sich einfach aufzeigen. Der NZZ war das Beispiel mit Perplexity AI derart wichtig, dass sie die angebliche Hauptquelle beim «Einsiedler Anzeiger» verlinkte. Die verlinkte Internet-Adresse (URL) ist https://www.einsiedleranzeiger.ch/2024/08/09/zum-referendum-kaltbach.

Wer diese URL aufruft, gelangt nicht hinter die Paywall, sondern erhält einen Leserbrief vom 9. August 2024 angezeigt, den der «Einsiedler Anzeiger» frei zugänglich im Internet veröffentlicht hatte und immer noch veröffentlicht hat (Archivkopie).
Je nach Browser-Einstellungen wird der Leserbrief mehr oder weniger lang angezeigt.
Der Leserbrief – also nicht einmal ein journalistischer Artikel, sondern ein nutzergenerierter Inhalt – stammt von Willi Kälin, nach eigenen Angaben ein FDP-Kantonsrat (Parlamentarier) im Kanton Schwyz und Präsident der kantonalen Kommission für Bauten, Strassen und Anlagen (BSA). In seinem Leserbrief liefert Kälin seine Pro-Argumente zur Abstimmungsvorlage, behandelt aber auch die Contra-Argumente der Gegner.
Der verlinkte Inhalt beim «Einsiedler Anzeiger» ist weder «streng passwortgeschützt» noch «nur zahlenden Kundinnen und Kunden zugänglich». Der Inhalt steht frei zugänglich im Internet.
Perplexity AI musste keinen journalistischen Inhalt «hinter den härtesten Bezahlschranken» klauen, weder direkt noch via GPT von OpenAI, sondern konnte auf einen Internet-öffentlichen Leserbrief zugreifen.
KI-basierte Dienste können keinen Inhalt hinter einer Paywall, die diesen Namen verdient, abgreifen – auch nicht beim «Einsiedler Anzeiger».
Fraglich ist ohnehin, ob der Internet-öffentliche Leserbrief tatsächlich die behauptete «Hauptquelle» war.

In jedem Fall gab es zahlreiche Internet-öffentliche Quellen zum «Referendum Kaltbach».
Informationen fanden sich unter anderem bei den Onlinemedien «March24» und «Nau», beim Hochbauamt des Kantons Schwyz, bei der FDP des Kantons Schwyz (mit ausdrücklicher Erwähnung von Petra Gössi und Willi Kälin) und auf der Website der politischen Gegner.
Wenn die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schreibt, «ausser den lokalen und regionalen Medien berichtet niemand darüber», übersieht sie, dass im digitalen Raum alle Internet-öffentlichen Medien global sind. Sie übersieht ferner, dass es nicht nur traditionelle Medien gibt, die Informationen über eine kantonale Abstimmung veröffentlichen.
Fazit: Medienpolitik statt Journalismus bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)
Die NZZ vergass vor lauter «politischer Gastfreundschaft» den Journalismus. Die beiden gestandenen NZZ-Journalisten Christina Neuhaus und Barnaby Skinner banden nicht nur Ständerätin Petra Gössi einen Bären auf, sondern auch ihrer Leserschaft.
Bei LinkedIn erweckte Barnaby Skinner den Eindruck, das Problem nicht zu sehen. Christina Neuhaus scheint immerhin klar zu sein, dass manche Medien freiwillig auf Bezahlschranken verzichten, damit ihre Inhalte von Suchmaschinen erfasst werden.
Ständerätin Gössi veröffentlichte bei LinkedIn den gesamten (!) NZZ-Artikel über ihren «Selbstversuch mit Chat-GPT» im Layout der gedruckten Ausgabe. Auf eine kritische Nachfrage reagierte sie bislang nicht. Gössi weiss allenfalls noch gar nicht, dass es den behaupteten «Datenklau» nicht gab (und auch nicht geben konnte).
Die NZZ hat den Artikel bislang nicht berichtigt. In den Richtlinien zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» des Schweizer Presserats steht die Wahrheitssuche an erster Stelle.

Wenn Journalisten bei Fakten ein Fehler unterläuft, unterliegen sie ferner einer Berichtigungspflicht:
«Die Berichtigungspflicht wird von den Medienschaffenden unverzüglich von sich aus wahrgenommen und ist Teil der Wahrheitssuche. Die materielle Unrichtigkeit betrifft die Fakten und nicht die sich auf erwiesene Fakten abstützenden Werturteile.»
Die Richtlinien des Presserats müssten allen Journalisten in der Schweiz bekannt sein, aber insbesondere auch Christina Neuhaus, die gerade erst noch Mitglied im Presserat war.
Mit ihrem Artikel binden die NZZ-Journalisten nicht nur ihrer Leserschaft nur einen Bären auf, sondern erweisen auch dem traditionellen Journalismus einen Bärendienst. Die Journalisten müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, aus medienpolitischen Gründen «professionelle Desinformation» zu verbreiten.
Bei dnip.ch sezierten die Tech-Journalisten Adrienne Fichter und Marcel Waldvogel ausführlich den «fehlenden Faktencheck der NZZ». In seinem Blog stellte ferner Beat Döbeli kritische Fragen zum NZZ-Artikel.
In einer aktuellen Podcast-Episode der «Datenschutz-Plaudereien» diskutierte ich mit Andreas Von Gunten den beschriebenen «Qualitätsjournalismus» der NZZ und die Zukunft der traditionellen Medien unter solchen Bedingungen.
Bild: Pixabay / Alexas_fotos, Pixabay-Lizenz.