Internet-Zensur in der Schweiz: Bundesamt für Polizei sperrt Medien-Website «20 Minuten» fälschlicherweise wegen verbotener Pornografie

Bild: Internet-Zensur (KI-generiert)

Die Medien-Website «20 Minuten» wurde durch die staatliche Internet-Zensur-Infrastruktur in der Schweiz gesperrt. Das verantwortliche Bundesamt für Polizei (Fedpol) spricht von einem «Bedienfehler».

Die Website von «20 Minuten», der gleichnamigen Gratiszeitung, ist eine der beliebtesten Websites der Schweiz. Die Website unter dem Domainnamen 20min.ch zählt pro Tag im Durchschnitt mehr als drei Millionen Visits.

Am 2. und 3. Juli 2024 war die «20 Minuten»-Website für Nutzer in der schweizerischen Bundesverwaltung nicht mehr erreichbar. Das Fedpol hatte den Domainnamen 20min.ch auf eine Sperrliste gegen verbotene Pornografie gesetzt.

Die Netzsperre betraf aber nicht eine interne Sperrliste der Bundesverwaltung, wie anfänglich vermutet worden war. Solche Sperrlisten sind bei Behörden und Unternehmen üblich, beispielsweise zum Schutz vor Phishing und Schadsoftware.

Die Netzsperre betraf die ganze Schweiz, wurde aber durch das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) besonders schnell eingespielt, nachdem 20min.ch in die Sperrliste eingetragen worden war. Die Sperrliste gilt für alle Internet-Provider in der Schweiz.

Solche Sperrlisten sind notorisch fehlerhaft. Es kommt immer wieder zu unberechtigten Sperrungen von Websites.

Staatliche Internet-Zensur-Infrastruktur in der Schweiz

Seit 2019: Netzsperren gegen Online-Geldspiel ausserhalb der Schweiz

Die staatliche Internet-Zensur-Infrastruktur wurde in der Schweiz mit dem neuen Bundesgesetz über Geldspiele (Geldspielgesetz, BGS) per 1. Januar 2019 eingeführt.

Fernmeldedienstanbieterinnen bzw. Internet-Provider sind verpflichtet, den Zugang zu in der Schweiz nicht bewilligten Online-Spielangeboten zu sperren (Art. 86 BGS).

Für Online-Casinos und andere Online-Spielangebote ausserhalb der Schweiz gibt es zwei Sperrlisten:

Die beiden Sperrlisten werden von den beiden Behörden gelegentlich aktualisiert und im Internet veröffentlicht. Die Umsetzung der Netzsperren erfolgt durch die einzelnen Fernmeldedienstanbieterinnen.

Im Abstimmungskampf hatten die Digitale Gesellschaft und andere Gegner des neuen Geldspielgesetzes vergeblich vor den Folgen der neuen Internet-Zensur-Infrastruktur gewarnt.

Seit 2021: Netzsperren gegen verbotene Pornografie

Auf die Netzsperren gemäss Geldspielgesetz folgten per 1. Januar 2021 weitere Netzsperren gegen verbotene Pornografie im Rahmen einer Revision des Fernmeldegesetzes (FMG). Diese Netzsperren trafen nun die «20 Minuten»-Website.

Art. 46a Abs. 3 FMG betreffend «Kinder- und Jugendschutz» lautet insbesondere wie folgt:

«Die Anbieterinnen von Fernmeldediensten unterdrücken die Informationen mit pornografischem Inhalt nach Artikel 197 Absätze 4 und 5 des Strafgesetzbuchs, auf die das Bundesamt für Polizei sie hinweist.»

Die Pflicht zur Internet-Zensur wird in Art. 89b Abs. 2 der Fernmeldeverordnung (FDV) konkretisiert:

«Die Anbieterinnen von Internetzugängen sorgen dafür, dass sie die Hinweise des Bundesamts für Polizei nach Artikel 46a Absatz 3 erster Satz FMG erhalten können. Sie setzen die aufgrund der Hinweise erforderlichen Massnahmen umgehend in ihren Systemen um.»

(Man beachte, dass die FDV von «Anbieterinnen von Internetzugängen» spricht, während das FMG den Begriff «Anbieterinnen von Fernmeldediensten» verwendet.)

Die entsprechende Sperrliste wird vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) geführt und wird– soweit ersichtlich – nicht veröffentlicht.

Die Digitale Gesellschaft hatte vergeblich auch vor diesen weiteren Netzsperren gewarnt. Netzsperren untergraben die IT-Sicherheit und unwirksam, zeigen aber auch eine zynische Haltung gegenüber verbotener Pornografie:

«Die Augen vor kinderpornografischen Straftaten werden verschlossen, Opfer werden nicht geschützt und Täter werden nicht verfolgt. Täter können Netzsperren ohne weiteres umgehen und entgehen der Strafverfolgung.»

Die fälschliche Netzsperre der 20min.ch-Website zeigt, dass die staatliche Internet-Zensur-Infrastruktur in der Schweiz auch direkt die Medienfreiheit betrifft.

Wie gelangte «20 Minuten» auf die Sperrliste gegen verbotene Pornografie?

Screenshot: Netzsperre gegen 20min.ch bei der Bundesverwaltung in der Schweiz

Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) aktualisiert die Sperrliste manuell einmal pro Tag. Dabei sei es, so das Fedpol, zu einem «Bedienfehler» gekommen.

In der Bundesverwaltung erfolgt der Internet-Zugang über den «Internet Proxy Service» des Bundesamtes für Information und Telekommunikation (BIT). Mit diesem Proxy überwacht das BIT die Internet-Nutzung beim Bund. Beamte, welche die 20min.ch-Website aufrufen wollten, erhielten eine Webseite mit dem Titel «Web Page Blocked!» angezeigt.

Die Sperrung erfolgte gemäss dieser Webseite in der Kategorie «BITkobik». Die KOBIK war die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, die 2003 ihren Betrieb aufgenommen hatte. Die KOBIK wurde per Ende 2020 aufgelöst.

Wie die 20min.ch-Website bei einer händischen Aktualisierung auf die Sperrliste gelangen konnte, ist rätselhaft.

«20 Minuten» betreibt eine der bekanntesten Websites der Schweiz und müsste jedem Fedpol-Mitarbeiter ein Begriff sein. Was für ein «Fehler» geschah bei welcher «Bedienung»?

Das Fedpol hat bislang – soweit ersichtlich – keine genaue Begründung geliefert. Das Fedpol erklärte, die Mitarbeitenden würden nun «sensibilisiert».

Fragen wirft auch die Kommunikation des Fedpol in dieser Angelegenheit auf. Das Fedpol veröffentlichte keine Medienmitteilung, sondern kommunizierte öffentlich – soweit ersichtlich – ausschliesslich über Twitter / X.

Das Fedpol ist damit auf einer Social-Media-Plattform präsent, die inzwischen – neben Desinformation und Extremismus – auch für Pornografie bekannt ist. Auf der Plattform sind pornografische Inhalte ohne wirksamen Jugendschutz zugänglich, was in der Schweiz strafbar ist (Art. 197 Abs. 1 StGB). Das Fedpol müsste von Amtes wegen eine Strafanzeige gegen Twitter / X deponieren.

Diese pornografischen Inhalte umfassen auch Kinderpornografie. Ein Nutzer, der aufgrund solcher Inhalte bei Twitter / X gesperrt wurde, darf die Plattform nach persönlicher Intervention von Twitter / X-Mehrheitsaktionär Elon Musk wieder nutzen.

Screeenshot: Mitteilung des Bundesamt für Polizei (Fedpol) zur Netzsperre von 20min.ch bei Twitter / X am 3. Juli 2024

Bei Twitter / X veröffentlichte das Fedpol folgende Mitteilung und hüllt sich seither in Schweigen:

«Von gestern Abend bis heute Mittag war die Website von @20min teilweise nicht erreichbar. Sie war fälschlicherweise auf einer Sperrliste von fedpol. Der Fehler wurde sofort korrigiert. Abklärungen sind im Gang. Wir entschuldigen uns bei @20min und deren Leserinnen und Lesern.»

Nach aktuellem Stand ist davon auszugehen, dass ein einzelner Mitarbeiter beim Fedpol beliebige Websites sperren lassen kann und es keine wirksame Qualitätskontrolle gibt. Dabei erfolgt das Ganze hinter verschlossenen Türen beim Fedpol als Sicherheitsbehörde.

Die Sperrung von «20 Minuten» durch das Fedpol zeigt, wie gefährlich die staatliche Internet-Zensur-Infrastruktur in der Schweiz ist. Wenn eine bekannte Website wie 20min.ch durch einen «Bedienfehler» auf die Sperrliste gerät, muss man sich fragen, was dem Fedpol sonst noch für Fehler unterlaufen sind.


Nachtrag: Fedpol erklärt Vorfall mit misslungenem Test

Inzwischen hat das Fedpol gegenüber «20 Minuten» den Vorfall mit einem misslungenem Test begründet:

«Mehrmals jährlich teste das Fedpol das Blacklist-System, um zu prüfen, ob das System mit den neuesten Web-Techniken immer noch umgehen kann. ‹Bei einem solchen Test geriet die Seite von 20 Minuten versehentlich auf die Sperrliste.››»

Die Netzsperren sind trivial zu umgehen. Insofern ist unklar, was das Fedpol in dieser Hinsicht testet. Unklar ist auch, wieso ein solcher Test mit produktiven Domainnamen bzw. Websites von Dritten erfolgt. Unklar ist schliesslich auch, wieso für einen solchen Test überhaupt die echte Sperrliste verwendet wird.

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